Guercoeur. Albéric Magnard.
Tragédie en musique.
Anthony Fournier, Christof Loy, Johannes Leiacker, Ursula Renzenbrink, Olaf Winter. Opéra national du Rhin, Strassburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Mai 2024.
> Im Unterschied zu Richard Wagner, der sich im Repertoire etabliert hat, blieb Albéric Magnard (1869-1914) bis heute ungespielt. Die grossen gedruckten Nachschlagewerke in deutscher Sprache erwähnen ihn nicht. Das englische bezeichnet seine Musik zwar als wertvoll, meint aber: "Seine Würde, ja sogar Strenge sind wohl ein dauerhafter Hinderungsgrund für eine grosse Popularität." Heute jedoch bringt die Strassburger Oper Albéric Magnards dreiaktige lyrische Tragödie "Guercoeur" zum ersten Mal nach ihrer postumen Uraufführung 1931 in Frankreich wieder auf die Bühne - und die aktuelle Lage der Welt erhebt die Entdeckung tragischerweise zum Ereignis. <
Vor der sechsten Vorstellung von "Guercoeur" tritt der Generaldirektor der Strassburger Rheinoper Alain Perroux vor den Vorhang. Keine Bange, sagt er. Die Sänger seien gesund. Es sei keine Umbesetzung anzukündigen. "Aber gestern ist Hugues Gall gestorben. Er war fünfzehn Jahre lang Direktor der Genfer Oper und neun Jahre lang Direktor der Pariser Oper. Beide Häuser kamen durch ihn auf Spitzenniveau. Er hat mit seiner Tätigkeit viele geprägt; auch mich. Deshalb widmen wir nun diese sechste Vorstellung seinem Andenken."
Nun hebt Anthony Fournier als Nachdirigent für Ingo Metzmacher den Stab zur sechsten Vorstellung. Er ist mit der Partitur so vertraut, dass er die drei Akte "sans faille" durchbringt. Nicht ein Wackler zwischen Bühne und Graben. In den Tuttistellen dreht das Orchestre philharmonique de Strasbourg wohl massiv auf, doch nimmt es sich am Ende der Phrase elegant zurück, um den Gesangsstimmen Platz zu geben. Albéric Magnards strenge, um nicht zu sagen: herbe Tonsprache entspricht zwar in der Invention ihrer Zeit (dem späten 19. Jahrhundert), nimmt aber im Ausdruck schon den Charakter der neuen Sachlichkeit vorweg.
Zum Gedenken an Hugues Gall, der am Vortag das Erdenleben verlassen hat, hebt sich nun der Vorhang. Die Szene führt zu den abgeschiedenen Seelen im Jenseits. Im Dämmerlicht besingt der Chor im Schoss der himmlischen Mutter seine Erlösung:
Die Zeit ist nicht mehr, der Raum ist nicht mehr.
Unsere Seele ist verloren in der Seele der Dinge.
Nicht mehr fühlen, nicht mehr denken.
Süsse Bewusstlosigkeit.
Unter den Seligen sehnt sich einer jedoch ins Leben zurück: "Vivre!", ruft Guercoeur mit Insistenz. Sein Bariton ist voll und mächtig. Stéphane Degout verkörpert den Volkstribunen so wortdeutlich, dass es nicht nötig ist, seinen Text von der Übertitelung abzulesen. Mit "Vivre!" ist für den ersten Akt die Situation gesetzt: Im Gegensatz zu den andern will einer weg, und diesem Wollen gibt er mit seinem Gesang dreiviertel Stunden lang Ausdruck.
Die Musik illustriert und variiert den Konflikt zwischen Gehenlassen und Zurückhalten. Ihr Ausdrucksreichtum macht die Stagnation erträglich. Und Christof Loys Inszenierung macht sie darüberhinaus spannend. Im meisterlichen Licht von Olaf Winter gruppieren sich die Gestalten zu immer neuen Konstellationen. Ihr Ausdruck ist geladen von Bezügen, die auf einen unausgesprochenen individuellen Charakter zurückgehen (Kostüme: Ursula Renzenbrink). Auf der leeren Bühne mit einem Dutzend einfacher schwarzer Holzstühle (Johannes Leiacker) schaffen die Blicke und Gebärden der Figuren eine starke Raumdynamik. Die Minimal Art, die sich auf diese Weise entfaltet, trägt bis zur Pause.
Nach dem Vorbild Richard Wagners, der sich im Repertoire der grossen und mittleren Häuser etabliert hat, schrieb Albéric Magnard sein Libretto selbst. Wie der Bayreuther Meister formulierte er auch eine Botschaft:
Volk, was für ein Wahnsinn hat dich gepackt?
Vergiess kein Blut!
Entwaffne die Anarchie!
Entwaffne den Tyrannen!
Darum geht es: Zivilisierende Einsicht durch Kunst.
Der zweite Akt spielt auf der Erde. Immer noch ist auf der Bühne der Rheinoper der szenische Ausdruck zurückhaltend, ja karg. Aber im Zusammenspiel von Wort und Musik führen Chor und Solisten die Tragödie durch Spiel, Gebärde und Haltung immer wieder zu schmerzhaften Momenten. Die Liebesszene wird dissonant durch den Konflikt zwischen herzlichem Wohlwollen und verräterischen Machtaspirationen. Gesanglich und darstellerisch realisieren Antoinette Dennefeld und Julien Henric für die Personen Giselle und Heurtal das Besetzungsideal.
Doch Guercoeur, nun zum Leben auf den Boden der Welt zurückgekehrt, muss erkennen, dass die Menschen im Lauf zweier Jahre sein Erbe verraten haben. Die geliebte Giselle blieb seinem Andenken nicht treu, sondern warf sich dem Gefolgsmann Heurtal an die Brust. Der glaubt nicht mehr an die Republik, sondern erträumt sich den Monarchenthron. Das Volk gibt ihm recht. Es verflucht die Demokratie und sehnt sich nach einem Führer:
Brot! Elend! Brot!
An unserer Lage ist Guercoeur schuld mit seiner Republik.
Der Tyrann erdrückte uns mit Steuern,
aber wir waren nicht arbeitslos, wir konnten essen!
Ha! Ha! Wie ist die Freiheit schön,
wenn man vor Hunger verreckt.
Ha! Ha! Die Freiheit, die Freiheit!
Wir haben genug von ihr.
"Guercoeur" entstand zwischen 1897 und 1901. Heute, wo die Oper nach 1931 zum zweiten Mal in Frankreich zur Aufführung kommt, hören wir im Chor das Gegröle der Le Pen-, Orban-, Erdogan-, Trump- und Putin-Wähler, den Gesang der Demokratiefeinde in Deutschland, Frankreich, Argentinien, Österreich, Südafrika und den muslimischen Ländern.
Im dritten Akt kommt der Schatten Guercoeurs in den Himmel zurück, gestützt auf eine allegorische Figur:
LEID: Mutter, sieh den Ehrgeizigen,
Der aus dem Himmel floh.
Dem herrlichen Frieden
zog er die Kämpfe des Lebens vor.
Die Strafe war hart. Vergib ihm.
Ich bringe ihn dir demütig und reuig zurück.
GUERCOEUR: Vergebung. Ruhe. Vergessen.
Eine Woche vor den Kommunalwahlen in Thüringen mit dem prognostizierten Sieg der AfD, zwei Wochen vor den Europawahlen mit dem prognostizierten Sieg des Front National erinnert die nicht nur verdienstvolle, sondern leider auch aktuelle Ausgrabung der Strassburger Rheinoper an jenes Erlebnis, das Erich Kästner weitergegeben hat. Als er um 1960 in der Münchner Strassenbahn unterwegs war, wurde der Wagen von einer Gruppe junger Männer bestiegen, die sich für den Fasching verkleidet hatten. Sie trugen braune Hemden und rote Armbinden, und beim Eintreten rief einer: "Do samma wieder!" Daraufhin sank ein älterer Herr vom Sitz. Der Schlag hatte ihn getroffen.
So geht es einem heute mit "Guercoeur".
Einer will leben.
Das Volk darbt.
Zurück in den Tod.