Aufbruch. © Susanne Hassler-Smith.

 

 

Am Ziel. Thomas Bernhard.

Schauspiel.

Matthias Rippert. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. März 2024.

 

> Die Pausen in den Bernhard-Stücken: An der alten Universität hätten sie jene Arbeiten ausgelöst, mit denen die Fortge­schrit­tenen den akademischen Grad des "lic. phil." erwarben. Bei Thomas Bernhard haben die Pausen, also die Momente, wo der Redefluss stockt und (wie man im 19. Jahrhundert gesagt hätte) ein Engel durchs Zimmer geht, je nach Inszenierung ein unter­schied­liches Gewicht, eine unterschiedliche Färbung, eine unterschiedliche Bedeutung. In der gegenwärtigen Interpre­tation des Burgtheaters erreicht die Pause nun eine neue Qualität: Man bemerkt sie nicht. Damit wird "Am Ziel" zu einem Gipfel der Neudeutung und des erfüllten Spiels. <

 

Die Vorstellung dauert 2 Stunden 15 Minuten "ohne Pause". Nur zwei Personen verlassen währenddessen den Saal. Die anderen wissen, was sie erwartet, und sind deswegen gekommen. "Am Ziel", ein Stück aus der frühen Bernhard-Zeit (1981), bringt bereits die typische Dreierkonstellation: eine Person spricht – mehr oder weniger pausenlos – zu einer anderen über eine abwesende dritte. Im zweiten Teil tritt eine weitere Person hinzu, wodurch sich das Gefüge verändert und in Bewegung setzt.

 

Im Wiener Akademietheater (die Produktion wanderte ihres Erfolgs wegen vom Kasino am Schwarzenbergplatz hinüber auf die grössere Bühne) ist Dörte Lyssewski die Person, die spricht. 2 Stunden 15 Minuten ohne Pause. Die Parforceleistung ist umso beeindruckender, als man ihr die Leistung nicht anmerkt. Die Künstlerin durchwandert Bernhards Zeilen, als wären sie nicht am Schreibpult formuliert worden, sondern würden jetzt gerade aus der Situation hervorwachsen. Auf diesem Boden werden die Manierismen des Autors nicht länger ausgestellt, sondern die Produktion gleitet in fein abgestufter, lebendiger Darstellung elegant über sie hinweg.

 

Die Person, zu der Dörte Lyssewski spricht, ist im Stück ihre Tochter (in Wirklichkeit Laura Balzer, Einspringerin für Maresi Riegner, die sich auf Mutterschaftsurlaub befindet). Die junge Frau ist mangels Stimme mit ihren Opernplänen gescheitert. Jetzt ist sie Begleiterin der Mutter. In jedem von Bernhards Werken findet sich die hegelsche Herr-Knecht-Dialektik. Die Mutter referiert, wie es kam, dass sie ein Paar bilden und auf einander angewiesen sind. Schuld ist der abwesende – weil verstorbene – Dritte, Ehemann der Mutter, Vater der Tochter.

 

Dieses Gefüge bringt Rainer Galke in Bewegung. Seine Rolle wird bezeichnet mit: "Ein dramatischer Schriftsteller". Der schöne junge Künstler Anfang dreissig, von dem die beiden Frauen schwärmen, ist auf der Bühne ein übergewichtiger Mittfünfziger. So spielt die Inszenierung von Matthias Rippert klug mit der Problematik von Wunsch und Wirklichkeit.

 

Eben hat der dramatische Schriftsteller auf dem Theater einen ersten Erfolg gefeiert. Er brachte ihm die Einladung ins Ferienhaus von Mutter und Tochter ein. Und da befindet er sich nun, wie die Mutter ruft, "am Ziel"; sie sagt: "seiner Wünsche", meint aber wohl auch die ihren; und die der Tochter. Damit beleuchtet das Stück an einem neuen Objekt die ver­trackte Beziehung von Kunst und Leben.

 

Durch das Auftauchen von Rainer Galke bekommen die Pausen eine neue Färbung. In der ersten Hälfte ergaben sie sich durch Erlahmung, Wegwandern der Gedanken, Erreichung eines Punkts der Leere, Abwendung. Jetzt zeigen sie überdies Verlegenheit, Scham, Flucht, Fortsetzung des Gesagten ins Ungesagte, Insinuation des Unaussprechlichen, Vorbereitung zum Sprung.

 

Auf eigenständige, aber unaufdringliche Weise bringt Matthias Rippert die Zusammenhänge des Lebens ins Spiel, durch die sich seine Inszenierung von den andern abhebt. Im Programmheft-Interview erklärt er:

 

Sobald sich die Form als Form selbst gefällt, bringt es nichts. Ich versuche, und ich glaube, Dörte, Maresi und Rainer versuchen das auch, diesen Text einfach zum Leben zu bringen. Und wenn das gelingt, ist schon wahnsinnig viel passiert.

 

Ja, dann ist "wahnsinnig viel passiert". Es ist gelungen, die Ist-Soll-Diskrepanz zu überwinden. Damit hat das Theater Perfektion, und es befindet sich, künstlerisch betrachtet, "Am Ziel".

Der dramatische Schrifsteller ... 

... setzt alles in Bewegung. 

 
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