Einsam in allem, was er tut, zeigt und sagt. © Anja Köhler.

 

 

Fabian. Erich Kästner.

Schauspiel.

Max Merker, Damian Hitz. Koproduktion des Vorarlberger Landestheaters Bregenz mit Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. Februar 2024.

 

> Zur Troisième sind ein paar Klassen aus dem Wallis nach Biel gekommen. Der professionelle Zuschauer denkt: "Hoffentlich gefällt ihnen die Vorstellung! Es wäre schön, wenn die jungen Menschen mit 'Fabian' für die lebendige Kunst des Theaters gewonnen werden könnten!" Die Inszenierung zeigt Schmiss und Tempo. Sie liefert viel Musik. Die Darstellungsweise ist schräg. Beim Thema Sex gehen die Darstellerinnen den Männern an die Wäsche. Das dürfte doch den Jungen gefallen, oder? Die Bangnis vergeht lange nicht. Aber je vertrauter einem die Personen werden, desto stärker beginnt die Geschichte zu wirken. Dem professionellen Zuschauer treibt sie Tränen in die Augen. Und die Walliser? Der Kritiker hat sie vergessen. Für ihn zählte nur noch "Fabian". <

 

Im amerikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs wurde Carl Zuckmayer, der im Deutschen Reich als Schriftsteller und Dramaturg vorher mit allen Angehörigen der Kulturwelt verkehrt hatte, vom Geheimdienst der Vereinigten Staaten beauftragt, in einem Report darzulegen, wen man nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft bedenkenlos werde weiterbeschäftigen können und wen man werde absetzen müssen. Bei der "Gruppe 1 (vom Nazi-Einfluss unberührt, widerstrebend, zuverlässig)" findet sich der Name Kästner, von Zuckmayer unterstrichen:

 

Über sein Verbleiben in Deutschland – und über die Tatsache, dass es ihm möglich war, ohne von den Nazis eingesperrt oder erledigt zu werden – ist viel diskutiert worden. Ein Nazi ist er bestimmt nie geworden, auch nicht zum Schein. Er selbst hat Freunden erklärt, dass er seiner Mutter wegen geblieben sei, zu der er ein besonders inniges Verhältnis hatte. Aus seiner sehr öffentlich betonten Mutterbeziehung pflegte er in der Vorhitlerzeit, wenn er im Radio vorzutragen hatte, immer zuerst seine Mutter anzusprechen und sich zu überzeugen, dass sie in Leipzig zuhörte.

 

Die Mutter kommt auch in "Fabian" vor. Aus der Provinz schreibt sie dem Sohn in die Hauptstadt. Sie macht sich Sorgen um ihn. Wünscht ihn zurück. In einer schlichten, grauen Perücke verkörpert Milva Stark die gute, kümmernisreiche Frau. Daneben gibt sie eine energisch zupackende Bordellmutter unter blondem, onduliertem Haar, wie es am Ende der Weimarer Republik Mode wurde. Und mit Bauch, Hemd, Krawatte und Sakko zeichnet sie den zynischen Justizrat Labude. Alle Personen mit sicherer Gebärde in den Raum gestellt.

 

Gero Vierhuff hat Erich Kästners figurenreichen, 240 Seiten starken Roman für eine Vorstellung von anderthalb Stunden zugeschnitten. Max Merkers flüssige Inszenierung nimmt das Tempo der Vorlage auf. Dabei kommt ihm das blitzgescheite Bühnenbild von Damian Hitz zuhilfe, welches unter Rückgriff auf die antike Periaktenbühne schnelle, überraschende Verwand­lungen erlaubt, an denen man sich nicht satt sieht, auch dank der wirkungsstarken musikalischen Zwischenspiele von Gilbert Handler.

 

Aufs genaue Zeichen reduziert erscheint so

 

diese riesige Stadt: Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.

 

Auf der Bühne kommt die Metropole zur Darstellung durch Menschen und Dialoge. Das Theater erzählt den Roman mit Situationen und Beziehungen. Neben Milva Stark schaffen es Johanna Köster und Maximilian Kraus – gerade in der leichten Unvollkommenheit ihrer Skizzen – das schlichte, ungreifbar Menschliche spürbar werden zu lassen, wie es beim "Gang vor die Hunde" aufzuscheinen pflegt. (So hätte auch ursprünglich der Titel des Buchs lauten sollen; doch der Verleger lehnte ihn ab.)

 

Aaron Hitz, der Fabian verkörpert, spiegelt und kontrastiert das Geschehen. Sein Spiel ist in allem, was er tut, zeigt und sagt, von Einsamkeit durchzogen. "Die Geschichte eines Moralisten" (so der Untertitel) führt in den Untergang: Den Untergang der Hauptfigur, den Untergang ihres besten Freunds, den Untergang der Republik.

 

Der Roman wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! (Erich Kästner)

 

Fabians Freund hat sich umgebracht, weil ihm ein missgünstiger Assistent die Ablehnung seiner Habilitationsschrift vorgelogen hatte.

 

"Ach so, es war nur ein Scherz!", rief der Justizrat und lachte verzweifelt.

 

Und als Witz gestaltet sich auch Fabians Ende:

 

Der Junge stiess einen gellenden Schrei aus, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hinunter in den Fluss.

Fabian zog die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, in den Fluss. Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wieder.

Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.

Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.

 

Der Untergang – ein Witz. Die Tragik – ein Witz. Das Buch – ein Witz.

 

Mit dieser Beleuchtung schuf Erich Kästner ein grosses, ergreifendes Panorama von der Existenzform des Menschen in der Moderne.

 

Was aus ihm geworden ist, weiss ich nicht. Wenn er überlebt, mag er einer der wichtigen Männer für die Nachkriegsperiode werden. (Carl Zuckmayer über Erich Kästner.)

 

Der Junggeselle. 

Die Bordellmutter. 

Der Bonvivant. 

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