Le Silence. Guillaume Poix/Lorraine de Sagazan.
Schauspiel nach dem Werk von Michelangelo Antonioni.
Lorraine de Sagazan. Comédie-Française, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2024.
> Kinder und Hunde, sagt eine alte Regel, haben auf der Bühne nichts verloren. Was passiert, wenn das Gebot missachtet wird, zeigt "Le Silence" an der Comédie-Française in Paris. Der bedeutungsschwere Ernst der an Michelangelo Antonioni orientierten Stückentwicklung wird von einem munteren kleinen Hund namens Miki neunzig Minuten lang glänzend unterlaufen, und der Mitwirkende, der keine Gage bekommt und nicht auf Beifall aus ist, spielt sich in die Herzen des Publikums. <
Als die Mätresse des Grossherzogs gegen den Widerstand des Intendanten durchgesetzt hatte, dass die Weimarer Hofbühne für das Gastspiel eines Hundetheaters freigegeben wurde, legte Johann Wolfgang von Goethe das Amt nieder. In seinen Augen vertrugen sich die dressierten Freunde des Menschen nicht mit der Grösse der schillerschen Helden, welche in den Jahren zuvor auf denselben Brettern zur Uraufführung gekommen waren. – In Paris kommt nun der Hund nicht als Truppe, sondern als Solist auf die Bühne. Für die Kunst ist das Ergebnis gleich desaströs.
Das Tier tut in keinem Moment "als ob". Es "ist". Sein Verhalten beweist die These, dass die Wichtigkeit der Dinge vom Grad der Zuwendung abhängt, der ihnen beigemessen wird. Der verlorene Schnuller des Säuglings kann zur Tragödie werden. Die schlechte Note des Schülers zum Unglück. Die verpatzte Matura zum Grund, aus dem Leben zu scheiden. (Friedrich Torberg: Schüler Gerber.)
Für den munteren, kleinen Miki gibt es nichts Schöneres, als mit dem Ball zu spielen. Darauf freut er sich den ganzen Abend. Schon zwei Minuten bevor sich das Geschehen auf diese Szene hinbewegt, hebt er sich auf die Hinterbeine und richtet mit aufgeregtem Schnüffeln die Schnauze auf den erhöhten Platz des Spielobjekts. Die Ernsthaftigkeit seines Wollens aber weckt unsere Einfühlungbereitschaft.
Das Verhalten der Schauspieler auf der Bühne ist weniger interessant. Es zeigt ja auch nicht das wahre Tier, sondern Erwachsene, die auf den Brettern etwas anderes darstellen wollen, als sie in Wirklichkeit sind. Darum sind sie – im Unterschied zu Kindern und Hunden – auf dem Theater nicht "echt". Die Künstlichkeit der Darstellung vergessen die Zuschauer, solange sie nicht aus der Illusion geweckt werden. Wenn aber ein putziger kleiner Miki auftaucht, drängt sich der Unterschied zwischen Kunst und Leben mit voller Schärfe dem Bewusstsein auf.
Tiere haben zwar Ausdruck, aber keine Sprache. Sie können nicht erzählen, was war, nicht erklären, warum etwas ist oder sein soll; sie können nicht flunkern und lügen. – An der elementaren Weise der wortlosen Darstellung inspiriert sich nun prinzipiell auch "Le Silence" an der Comédie-Française.
Bei grossen, tragischen Ereignissen kommt es vor, dass es den Menschen die Sprache verschlägt. Etwa, wenn gerade der Sohn des Hauses ertrunken ist. Da zerwühlen die einen im Schmerz die geschenkten Blumen; die andern nehmen ein Haustier in die Arme; die dritten legen eine Platte auf, ohne zu hören, was sie spielt; die vierten fangen an, die Hinterlassenschaft aufzuräumen; die fünften legen etwas zum Essen auf dem Tisch, doch niemand hat Appetit. Im Raum aber geht mit abwesendem Ausdruck der Tote herum, und niemand bemerkt ihn.
Würde sich die Bühne auf diese hochgeladene Atmosphäre beschränken, käme man möglicherweise ins Grübeln, zumal die Schauspielerin Lorraine de Sagazan in Frankreich Philosophie und in Berlin Regie studiert hat. Ziel ihrer Inszenierung ist, "eine mehrdimensionale und polysemiotische Wahrnehmung zu fördern". Jeder Zuschauer soll sich seinen eigenen Reim machen. Jeder soll seinen eigenen Stückeschreiber, seinen eigenen Interpreten abgeben. Während die Anlage des Spiels in die Theorien der 1950er Jahre zurückführt, kommt mit Miki die Zeitlosigkeit der Natur ins Spiel, und das Interesse schrumpft auf die Frage: Was macht der Hund mit dem Ball? Vielleicht kein Zufall, dass der wichtigste Exponent des Dadaismus Hugo Ball hiess.