Boris Godunow. Modest Mussorgski.

Ralf Weikert, Götz Friedrich, Günther Schneider-Siemmsen. Opernhaus Zürich im Hallenstadion.

Radio DRS-2, Reflexe, 14. Juni 1984.

 

 

Vorbereitet han i mi mit eme Klavieruszug us em Antiquariat. Är isch 1910 usecho u het dennzmal 20 Mark kostet. Es isch es schöns, stattlichs Buech, vom Handwärk här öppis Erfreulichs. Stabil bunde, die starke Kartondeckle sy mit rotem Stoff überzoge, u druff steyt i Guldprägig: "Boris Godunow". Wenn me ds Buech ufschlaht, gseht me als ersts ds Bild vom Komponist Modest Mussorgski, so, wie ne der Ilja Repin kurz vor sym Tod im Jahr 1881 gmalet het. Ds Porträt isch nid schmychelhaft, es beschöniget nüt. Me gseht, wie die grobe Züg vom Komponist ufdunse sy. Die strähige Haar glänze fettig, der Bart isch unpflegt. Aber da druf luegt me chum, will eim d Auge sofort gfange nähme. Sie sy ungwöhnlich gross und ungwöhnlich wyss. E merkwürdige Blick het är uf däm Bild, der Modest Mussorgski. Är luegt wäg, u me weiss nid recht, wärum. Isch er öppe verläge? Oder gseht er öppis, wo ganz nach von ihm isch, aber nümm Platz het gha im Bild? Oder isch das, won er gseht, gar nid wirklich da? Luege die Augen öppe gar nid i d Welt, sondern i ds Rych vo der Phantasie, i ds Rych vo de Wahn- u Traumbilder?

 

Tatsach isch jedefalls, dass der Mussorgski am Änd isch gsy, won er gmalet worden isch. Sy Körper isch nume no nes Wrack, usghölt vom Alkohol u vo de Lydeschafte. U syni Seel isch verrisse, unfähig zur Konzentration u zur Arbeit. Kurz drufabe isch der Mussorgski de ou gstorbe, ab em Sufe, im Alter vo 42 Jahr. U doch het dä Ma, wo so sichtbar vor Krankheit zeichnet isch, eini vo de ganz grossen Opere vor Musikgschicht gschriebe, äbe der "Boris Godunow".

 

Dermit i vo däm Blick wäg chume, schlan i ds Titelblatt vo mym Klavieruszug uf. Da steit: "Boris Godunwo. Musikalisches Volksdrama nach Puschkin und Karamsin von Modest Mussorgski." Üsi Opere het also mehreri Vätere. Zersch e Historiker, der Nicolai Michailowitsch Karamsin. Us synere "Geschichte des russischen Reiches" het der Alexander Puschkin d Inspiration zum ene "Godunow"-Drama gholt. U vo däm Theaterstück het sich der Mussorgski la arege.

 

Aber da steit no ne wyteri Agab uf em Titelblatt: "Bearbeitet und instrumentiert von Rimsky-Korsakoff". Däm Komponist isch es z verdanke, dass me der "Boris" hüt überhaupt no kennt. Är het nämlich nach em Mussorgski sym Tod d Partitur zu sich gno und überarbeitet, i der Meinig, sy Fründ heig d Kompositiontechnik nume ungnüegend beherrscht, u me müess ihm hälfe, wenn's öppis Rächts söll gä. Us hüttiger Sicht isch die Bearbeitig fragwürdig. Der Rimsky laht ganzi Tremolotäkt us, Septime tuet er usmerze, chlyni Intervall entspanne, unvollständigi Akkorde usfülle, u rhythmisch ungwöhnlichi Akzente tuet er dür Taktstrichverschiebige usmerze. Mit dene Massnahmen aber wird ds Werk i die spätromantischi Operetradition ynegno, sy herb Charakter wird ufgweicht u dressiert, so dass es am Schluss nümm äs selber isch.

 

Hüt chöme viel Theater vo der Rimsky-Fassig wieder ab. Sie entscheide sich entweder für d Originalpartitur mit all ihrne – schynbare – Schwechine, oder sie näh d Bearbeitig vom Dimitri Schostakowitsch, wo 1939 usecho isch. Hie isch kei Note veränderet, sondern nume d Instrumentierig. Der ie Schostakowitsch isch der Meinig gsy, i zitiere: "Es gibt bei Mussorgski herrlich orchestrierte Stellen. Aber vieles war ganz einfach schwach, denn Mussorgski fehlte die handwerkliche Sicherheit."

 

Ja, "vieles ist ganz einfach schwach" – dä Vorwurf cha me ou em Libretto mache, wo der Mussorgski selber gschriebe het. Der Mussorgski cha kei Handlig baue. Är weiss nid, wie me Spannig produziert. Teil Figure laht er la ufträte u vergisst se nächhär uf der Bühni. Was sie adüte, würkt drum episodehaft, unfertig. Die sprachlichi Schönheit vom Text chan i natürlich nid beurteile; wenn ig aber uf en Inhalt luege, dünkt's mi, der Mussorgski chönn weder Dialoge no Monologe schrybe. Är würkt ou hie, im Libretto, wie ne unbeholfnige Autodidakt.

 

Dermit aber stellt sich d Frag: Was macht de d Grössi vom Werk no us? Wärum macht's uf jede, wo's gseht, so ne gwaltigen Ydruck? Wärum zwyflet kene, dass er's hie mit eme Kunstwerk vo ganz höchem Rang z tüe het? I gloube, es ligt a der urtümliche Kraft vo de Bilder, won üs der Mussorgski vorfüehrt. Är wott gar ke Handlig verzelle, är wott gar nid komplizierti psychologischi Abläuf nachezeichne. Sondern är stellt es Bild häre, u das Bild söll üs ergrife, als Bild, so wien es isch. Hie nes Byspiel: Platz im Kreml. Krönig vom Boris Godunow zum Zar:

 

(Musik)

 

Minutelang tuet ds Orchester Gloggeglüt imitiere. Musikalisch passiert also wenig. Aber d Musik git em Theater Ruum. Ruum für grossi Ufzüg. Mir gseh ds Volk, e wogendi Masse, es Stossen und es Drücke. U de – Rue. Die Geistleche träten uf, in ere länge Prozession, es chöme die Adlige, d Bojare mit ihrne festliche Gwänder. U zletzt, gross, mächtig, stolz, der neu Zar Boris Godunow uf em Höhepunkt vo syre Macht. Settigi Extrem suecht der Mussorgski. Der Höhepunkt vor Krönig am Afang. Am Schluss der Tiefpunkt. Ds Ändi vom Zar Boris Godunow, vo allne verla: vo sym Volk, wo ne verfluechet, vo syne Ratgäber, wo gäge ne intrigiere, verla ou vo sym Verstand... der Zar isch nume no es hilfloses Bündel, quält vo Wahnvorstellige u grauenhaften Ängst.

 

(Musik)

 

Die Bilder het ds Operehus Zürich im Hallenstadion usebracht, uf ere Riesebühni, wo der Günther Schneider-Siemmsen ygrichtet het. Vorne e grossi Spielflächi, de es paar Tritte ufwärts e zwöiti, u derhinter, no wyter obe, e dritti Spielflächi. Dür d Aornig vo Stäge, Winkle u Podie schaffet der Ruum schon es Kraftfeld, wenn er läär isch. U wenn e Person druf chunnt, entsteit e bedütigsvolli Spannig. Der Regisseur Götz Friedrich het d Möglichkeite, wo die Bühni git, voll usgschöpft. Scho der Afang isch beydruckend. Wie ds Orchester

 

(Musik)

 

im Fystere ysetzt. Wie's uf der Rieseflächi afaht dämmere. Zersch isch es numen es diffuses Schimmere, de wird's zum gheimnisvolle Halbdunkel. U da chöme us allne Löcher, obe, unte, uf der Syte, zwüsche der Stäge ärdbruni, verlumpeti Gstalte, zäh, zwänzg, füfzg, hundert drückti Wäse, alli bückt, gsichtslos, gschlächtslos, usdruckslos – ds Volk. Dere Masse stellt sich en einzelne gegenüber: Der Polizeioffizier mit der Geisle – e starke Kontrast.

 

Glych beydruckt het mi ou ds vorletzte Bild, der Tod vom Zar. Zersch hocket är höch obe, uf em Thron, und undenache stö d Bojare. Wenn sich der Boris i syner Wahnvorstelligen ynesteigeret, gö sie uf d Syte. Jetz steit der Zar ganz allei im Ruum, en arme, verzwyflete Mönsch, wo Hilf nötig hätt u vo allnen isoliert isch. D Bojaren uf der Bühni, ds tuusigköpfige Publikum im Saal, sie alli luege zue, wie sich ein einzelne ufböimt, wien er schreit, wien er vo sym Thron abegheit u stirbt, da im kalte Schynwerferliecht, i unsäglicher Gottverlassenheit und Einsamkeit. Es isch der Matti Salminen gsy, wo das gspielt het. I ha der Ydruck gha, är heig für die grossi Szene syni letzti Kraft härgä. Är heig vorher Stimm und Usdruck gschonet, für hie ds Maximum a Intensität chönne z leiste.

 

Zwüsche de grosse Momente het mi d Konzentrationsfähigkeit mängisch im Stich gla, und i ha a my antiquarischi Partitur dänkt. I de 20er Jahr muess sie nämlich eme Tenor ghört ha, wo als Grigori i de Operehüser vo Berlin, Wien und Hamburg ufträtten isch. Är het sich syner Engagement im Buechdeckel ufgschriebe. Und im Klavieruszug selber het er sich notiert, wie me der Grigori muess spiele. "Erschrocken", cha me da läse. Oder: "Blickt ängstlich umher." Oder: "Stolz." Dä unbekannt Tenor het sy Figur also uf Nuancierig hi agleit. Dermit me aber die Nuance mitüberchunnt, muess me nach ar Bühni sy. Im Hallenstadion aber isch das nid der Fall. Vo mym Platz us sy d Gsichter vo de Sänger nume so gross gsy wie Gufechnöpf. Sie hei drum ou kei indiviudellen Usdruck meh gha. Für mi het sich us däm Grund ds Problem vo der Distanz gstellt. I der Uffüehrig vom Operehus sy d Figure so wyt ewäg gsy, dass si mi fasch nümm erreicht hei. Betroffenheit, Mitleid, Identifikation isch nume stellewys möglich gsy.

 

Ds Problem vo der Distanz het sich aber ou bim Chor u bi de Statiste gstellt. Sie sy so wyt ewägg u so zahlrych, dass der Regisseur die einzelne Kräft nümm cha individualisiere. U da, wo der einzeln ganz i der Masse verschwummen isch, han i nümme ds Gfüehl gha, die Masse göng mi öppis a. Am Schluss, wo der Idiot ds arme Volk besingt, da het mi das arme Volk eso kalt gla wie ne Ameisihuufe. U das trotz de usgezeichnete Leistige vo allne Mitwürkende, vom Dirigent Ralf Weikert vorab, de vo de Soliste u vom 230köpfige Chor.

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