Jenufa als halbszenisches Oratorium. © Janosch Abel.

 

 

Jenufa. Leoš Janáček.

Oper.

Nicholas Carter, Eva-Maria Höckmayr, Julia Rösler, Christian Aufderstroth. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. Januar 2024.

 

> Wiederaufnahme der letzten Produktion von Operndirektor Xavier Zuber aus dem Corona-Jahr 2021, als die Schutzmassnahmen zur Reduktion der Plätze in Orchester und Saal führten. Wie damals ist das Regiekonzept recht anfechtbar. Eva-Maria Höckmayr macht zwar nicht viel, aber das wenige liegt schräg, weil abstrakt und verkopft. Gleich sieht es auf der musikali­schen Seite aus. Chefdirigent Nicholas Carter verwei­gert der Partitur den volkstümlich-musikantischen Klang und unterdrückt bei den Kernstellen jeden Ausdruck religiöser und gefühlsmässiger Tiefe. So bestätigt die Wiederaufnahme das Sprichwort: "Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht das Selbe." <

 

Leoš Janáček hat eine Partitur geschrieben, vor der man nur in die Knie sinken kann. Chef­dirigent Nicholas Carter unter­streicht die unerbittliche Bewegung, mit welcher der Komponist das Drama vorantreibt, doch vernachlässigt er alle volkstüm­lichen, innigen und gemüthaften Momente, zu denen die Handlung auch führt, so dass die musikalische Seite der Wiederaufnahme – gleich wie die Inszenierung – das Werk um wesentliche Dimensionen betrügt.

 

Die unablässige Bewegung der instrumentalen Kleinformen, welche den Grund für das Drama abgibt, zeigt an, dass alle Figuren auf schwankendem Boden stehen, sogar das unschuldige Kind, das am Anfang der Oper in Jenufa heranwächst und am Schluss steifgefroren aus dem Eis gehackt wird. Mitgerissen wird auch die Küsterin - am Anfang eine Respektsperson, am Schluss eine Mörderin: "Steinigt sie!" Mitgerissen auch Jenufa - am Anfang das schönste Mädchen des Dorfs mit göttlichen Apfelwangen, am Schluss eine mehrfach gezeichnete Frau: "Ich habe kein Geld, keine Ehre, und auch die Liebe, die grosse, erste Liebe, ist nun schon vorüber." Mitgerissen auch Steva - am Anfang der fescheste Bursch, der jede haben kann, am Schluss der Verfemte: "Steva ist kein Mann für mich, lieber spring' ich heut' noch ins Wasser!", ruft Karolka, die Verlobte. Mitgerissen auch Laca - aber nach oben: "Du gehst in die Welt hinaus, fängst wieder ein Leben an, und mich willst du nicht mitnehmen, Jenufa? Ich will mit dir alles gerne ertragen! Uns kann kein Leid geschehn, sind wir beide zur Tröstung beisammen!" Jenufa: "Laca, liebste Seele! O komm, komm! Jetzt fühl' ich im Herzen die Liebe, die grössere, die Gott selbst, der Herr, gern hat!" All diese Verläufe werden eingeleitet von den leisen Schlägen eines Xylophons in Achteln und synkopierten Sprüngen von Cello und Kontrabass (piano sempre marcato) – Leitmotiv des Mühlrads und der alles zermalmenden Zeit. Im Drama der Librettistin Gabriela Preissova ist mithin keine der Hauptfiguren "fertig". Jede gerät in Bewegung und steht am Schluss vor einer neuen Situation. Die Oper aber mündet ins Offene. Davor kann man nur in die Knie sinken.

 

Am gravierendsten ist die Wandlung bei der Küsterin. Das Orchester schwillt an zu einem Akkord von 14 Takten: "Nun sehe ich, dass ich mich weit mehr als dich geliebt habe, Jenufa." Mit dieser Erkenntnis lässt sich die einst stolze, dann verwirrte, und nun helle Figur abführen: "Bringt mich weg." Claude Eichenberger gestaltet den Bogen, den die Küsterin in drei Akten durchläuft, stimmlich und darstellerisch intensiv, und doch auch wieder schön und vornehm, sogar in der schreck­lichen Szene, wo sie das Neugeborene in den Mühlbach trägt. Für ihre starke Leistung bedankt sich das Premieren­publikum mit einem derartigen Applausorkan, dass der Künstlerin die Tränen in die Augen treten.

 

Im Zentrum des Werks aber steht die Titelfigur mit ihrem Schicksal im Auf und Ab der Gefühle: "Ach, es wird schon Abend, und Steva ist nicht zurück!" Alžběta Poláčková betont die unfreie Seite der Figur. Sie ist ein Opfer der Männer, der Familie, der Kirche, kurz des Systems. Darum lebt sie nicht. Ihr gesanglicher Auftritt ist demzufolge hochanständig, aber nicht überwältigend. Er entspricht dem kritisch-abstrahie­renden Konzept der Regisseurin.

 

Eva-Maria Höckmayr inszeniert die "Tragödie aus dem mährischen Landleben" grundsätzlich zurückhaltend: Lieber weniger als mehr. Sie stellt die Figuren, manchmal umgeben von stummen Gruppen, einfach in den Raum und lässt sie singen wie in einem halbszenischen Oratorium. Da sind die Interaktionen natürlich recht rudimentär. Die beiden Frauen, die Jenufa und die Küsterin verkörpern, erfüllen dank ihrer Ausstrahlung und ihres Gesangs das Profil der Rolle. Die Männer aber sind darstellerisch steif und unbeholfen – mit Ausnahme des wirkungsstarken und spielfreudigen Michał Prószyński als Steva.

 

Im Minimalkonzept der Regisseurin wirkt jedes falsche Zeichen notgedrungen nicht nur deplaziert, sondern peinlich, beziehungs­weise irritierend: Die Verschiebung der Podien nach hinten und vorn und am Höhepunkt (Entdeckung des Säuglings­mords) gar nach oben (Ausstattung Julia Rösler), dann Wechsel ins Stimmungslicht mit Blendung der Zuschauer im Finale (Christian Aufderstroth) wie bei Lehár im Maxim, und dazu immer wieder "Maske auf! Maske ab!" wie bei Brechts Musterinszenierungen am Berliner Ensemble. Kurz, alles, was bei der Inszenierung weit hergeholt ist, ist weit hergeholt.

 

Die Produktion entstand in der Spielzeit 2020/2021 mitten in die Coronakrise. Chorauftritte waren nicht möglich. Darum unterbleiben die grossen, folkloristi­schen Szenen, die Janáčeks Ruhm ausmachten. Und während der Seuche waren im Orchester nur 16 Musiker zugelassen. Aus diesem Grund reduzierte der damalige Chefdirigent Matthew Toogood die Partitur auf 16 Solisten. An zwei, drei Stellen mangelte es nun zwar an Opulenz, die Töne erschienen wie beim Pointillis­mus als distinkte Tupfer, statt ineinanderzufliessen wie beim Aquarell; aber der Gewinn an Durchhörbar­keit wog alles auf.

 

Nicholas Carter, der aktuelle Chefdirigent, spielt jetzt mit voller Orchestergrösse und damit häufig zu laut. Die Register jedoch sind runder, die dynamischen Abstufungen grösser. Gleichwohl stellt sich die Grundsatzfrage, warum die amtierende Opernleitung bei der Wiederaufnahme dem Publikum (wie bei Regie, Ausstattung und Licht) die Wiederbegegnung mit Matthew Toogoods unerhörter Berner Fassung verweigert und damit die Wiederentdeckung einer kostbaren, fragilen Schönheit ins Reich der Träume verweist.

 

Ob sich etwa die Antwort bei Erasmus von Rotterdam findet?

 

Vom Grundsatz "Gleich und gleich gesellt sich gern" sind diejenigen auszunehmen, die in derselben Berufsrichtung tätig sind, denn die Ähnlichkeit des Berufs löst eher Wetteifer aus als Wohlwollen. Die unter Berufskollegen herrschende Eifersucht hat schon Hesiod in seinen "Werken und Tagen" mit einer Reihe von Bildern veranschaulicht, ohne allerdings diese Art von Wettbewerb zu verurteilen. Im Gegenteil, er findet dafür sogar Anerkennung und Lob. Der Dichter unterscheidet nämlich vorgängig zwei Arten von Wettstreit, deren einer für uns Menschen nützlich und rühmlich, der andere aber hässlich und verderblich sei. Dieser zweite stifte die Menschen im Wettbewerb um Geld und Ehre zu Streit und rücksichtslosem Kampf auf, jener aber sporne sie mit leuchtenden Vorbildern zu Fleiss und edlem beruflichem Streben an. Diesen edlen Wettbewerb beschreibt Hesiod dann mit folgenden Worten: "Der Nachbar eifert dem Nachbar nach, der nach Wohlstand strebt: dieser Wettbewerb ist gut für die Menschen. Und der Töpfer ist eifersüchtig auf den Töpfer, der Zimmermann auf den Zimmermann, der Bettler beneidet den Bettler und der Sänger den Sänger." Aristoteles führt, mit Bezug auf Hesiod, im zweiten Buch der "Rhetorik" folgendes aus: "Da unser Ehrgeiz von denen geweckt wird, die im Spiel oder in der Liebe unsere Wider­sacher sind, oder, ganz allgemein, von denen, die das gleiche Ziel verfolgen wie wir, so ist es gar nicht anders möglich, als dass wir vor allem auf diese eifersüchtig sind; deshalb ist das Wort im Umlauf:

 

Der Töpfer beneidet den Töpfer,

der Schmied den Schmied.

 

Figulus figulo, faber fabro invidet."

 

Maske auf! 

Maske ab! 

 
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