Vom Text zur gemeinsamen Erfahrung. © Yoshiko Kusano.

 

 

Blutbuch. Kim de l'Horizon.

Schauspielfassung des Romans.

Sebastian Schug, Nico Zielke, Reto Dietrich. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2024.

 

> Schon lange keinem traurigeren, schöneren, vielschichti­geren, aufwühlenderen, intensiveren und authentischeren Text mehr begegnet als diesem "Blutbuch" in der Inszenierung des Berner Schauspiels. Büchner, Kafka, Joyce, Proust und ja, auch Hofmannsthal ("frühgereift und zart und traurig"), hätten unterschrieben: Das ist Geist von meinem Geist, Fleisch von meinem Fleisch, und Blut von meinem Blut. Eine vorzügliche Schauspielerin greift mit ihrer lichtvollen Fragilität dem Publikum ans Herz. Das Genderfluidi­täts­­blabla aber und die Buchpreishymnen kann man vergessen: Die Aufführung ist schlicht gut. Mehr braucht es nicht für einen grossen Abend. <

 

Lucia ist eine kleine, zierliche Person. Wenn sie in der Spielstätte Vidmar 2 zur Tür hereinkommt, wird sie gleich zerquetscht von harten, schwarzen Wänden und dichtgedrängten Zuschauerreihen. Für sie hat es hier keinen Platz. Ihre Unscheinbarkeit wird dadurch hervorgehoben, dass das Licht (Reto Dietrich) auf ihren Auftritt nicht reagiert und unverändert weiterstrahlt. Die Ärmel des schwarzen Pullovers sind zu lang und wachsen Lucia Kotikova über die Hände (Ausstattung Nico Zielke). So sieht es aus, wenn die kleine Schwester ins Hemd des 18-jährigen Bruders geschlüpft ist. Sie passt nicht hinein. Das Kleidungsstück unterstreicht bloss ihre unterentwickelte Konfektionsgrösse: Du gehörst nicht zu uns. Du bist zu klein, um mitreden zu können.

 

Demzufolge hätte man sich nicht wundern sollen, wenn man die Leute von Genie meistens ungesellig, mitunter abstossend gefunden hat: denn nicht Mangel an Geselligkeit ist daran schuld, sondern ihr Wandel durch diese Welt gleicht dem eines Spaziergängers an einem schönen frühen Morgen, wo er mit Entzücken die Natur betrachtet, in ihrer ganzen Frische und Pracht, jedoch an diese sich zu halten hat: denn Gesellschaft ist nicht zu finden, sondern höchstens nur Bauern, die, zur Erde gebückt, das Land bestellen. So kommt es denn oft, dass ein grosser Geist seinem Monolog vor den in der Welt zu haltenden Dialogen den Vorzug gibt: lässt er sich dennoch einmal zu einem solchen herbei, so kann es kommen, dass die Leere desselben ihn doch wieder in den Monolog zurückfallen lässt, indem er den Interlokutor [Gesprächspartner] vergisst oder wenigstens, unbekümmert, ob dieser ihn verstehe oder nicht, zu ihm redet wie das Kind zur Puppe. (Arthur Schopenhauer)

 

Der Monolog im "Blutbuch" gleicht indessen nicht einer Aubade, veranlasst durch das Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande, sondern der Klage eines Eingekerkerten, der durch vier Betonwände beengt wird: Die eine steht für das Herkommen aus der Schwärze der Vergangenheit; die andere für die Unbestimmtheit des Begehrens; die dritte für die verwir­rend-chaotische Überhelle seines pausenlos reflektie­renden Bewusstseins; und die vierte für die Zeit mit ihren Sprach- und Verhaltenscodes.

 

In der Mitte des Gefängnisses aber steht das einsame Selbst, das seine Befind­lichkeit durch die Sprache ausdrückt und erkundet. Indem es das Erlebte, Empfundene, Erträumte und Gedachte durch Wörter festhält, schafft es ein schönes, trauriges, vielschichtiges, intensives, aufwühlendes und berührendes Stück Literatur. Es kam zustande wie das Neuartige bei Friedrich Nietzsches Wanderer:

 

Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgendeiner Richtung hin ins Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen niemand kennt: So entstehen die Genies, denen man Originalität nachrühmt.

 

Die Qualität des "Blutbuchs" durch das Berner Schauspiel kommt dadurch zustande, dass Raum, Konzept und Darstellerin zusam­men­stimmen. Indem die Textmasse auf Lucia Kotikovas fragilen Schultern ruht, entsteht ein dialektisches Verhältnis zwischen Aussage und Darstellung. Zu Beginn stellt Regisseur Sebastian Schug klar, dass sich die Aufführung in einem Dreieck von Zuhörerschaft, Schauspielerin und Wort abspielt. Lucia Kotikova spricht von ihrer Nervosität. Sie bittet das Publikum um Beistand für ihren Auftritt. Sie weist auf die Textblätter hin, die zur Sicherheit an der Wand hängen.

 

Dann beginnt sie, den Text zu sprechen. Darstellerisch ein harter Schnitt: Die Sprachmelodie ist energisch und vorwärts­drängend. Die Schauspielerin hat ein schmales Podest bestiegen. Sie gehört nicht mehr zu uns: Sie hat sich in den Dienst gestellt, ihren Körper, ihre Stimme, ihre Bewegungen dem "Blutbuch" zu leihen. Und unmerklich vergessen wir sie. Wir sind nicht mehr in der Welt von Vidmar 2, sondern in der Welt von Kim de l'Horizon. Doch dann holt uns ein Schnitt zurück: "Cut!" ruft Lucia Kotikova. Wir kommen ins Abwägen: Gehört das jetzt zum Buch oder zur Aufführung? So bewegt sich der Abend fortwährend im Dreieck von "ich", "wir" und "es", und das "Blutbuch" wird von einem Text zu unserer gemeinsamen Erfahrung. Büchner, Kafka, Joyce, Proust und ja, auch Hofmannsthal, würden sagen: "Wenn ihr uns fragt: So ist grosses Theater gemeint."

 

Dann beginnt sie, den Text zu sprechen ... 

 
 
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