Eurotrash. Christian Kracht.
Schauspiel.
Armin Petras. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 17. Dezember 2023.
> Die Romanadaptation bringt eine Reflexion zum Verhältnis von einer alten, dementen Mutter mit ihrem erwachsenen, offenbar alleinstehenden Sohn, der Christian heisst wie der Autor. Die Intimität der Geschichte zeigt sich an der Zartheit, mit welcher der Vollsinnige auf die Phantasien der Unzurechnungsfähigen eingeht. Durch sie bewegt sich die Vorstellung in einem Zwischenreich, wo sich Humor, Absurdität, Zerfall und Geisteshelle seltsam mischen. Das gut geführte, dreiköpfige Ensemble lenkt den ganzen Abend virtuos von der Frage ab: So what? <
Eine Figur namens Christian holt eine Figur namens Mama aus jener Pflegeeinrichtung, die sie Frankenstein-Heim nennt. Die beiden heben auf der Bank 600'000 Franken in Tausenderscheinen ab und setzen sich ins Taxi. Ihr Ziel ist Afrika. Sie wollen von dort ein Zebra in die Schweiz bringen. Unterwegs übernachten sie in einer abgeschiedenen Kommune. Der letzte Bewohner glaubt an die Überwindung von Krebs durch germanische Heilkunst.
Vor dem Verlassen der Schweiz möchte Mama noch ein Edelweiss sehen, dort wo es wächst, in der Natur. Eine Seilbahn führt sie in die Berge. Auf der Rückfahrt bleibt die Gondel stecken, die Nacht bricht an. Zwischendurch stellt sich das Problem des Beutels. Denn Mama hat einen künstlichen Darmausgang. Der Sohn lernt, wie man den Hygieneartikel ersetzt, und kommt damit der Mutter auf nie gekannte Weise nahe.
Der Trip wird aus der Perspektive von Christian erzählt. In den Vidmarhallen vernimmt das Berner Schauspiel-Publikum die Pronomen "ich" und "du", doch die Figuren flottieren frei im Raum. Sie werden zwar, wie im Roman, durch die Sprache gebildet, kommen aber nicht unmittelbar aus den gedruckten Zeilen des Buchs, sondern vermittelt durch die Münder von Vanessa Bärtsch, Jeanne Devos und Jonathan Loosli. Die drei Schauspieler leihen der Darstellung ihren Körper, ihre Stimme und ihren Ausdruck.
Indem der lineare Text aufgebrochen und durch wechselnde Akteure in unterschiedlichen Spielszenen übermittelt wird, schiebt Armin Petras in seiner Inszenierung das Wie vor das Was, das heisst die Vermittlung vor die Sache. Das Spiel hat die gleiche Wichtigkeit wie der Inhalt des Romans. Darum kann es eigene Wege gehen. Es braucht sich nicht durch stoffliche Zusammenhänge zu rechtfertigen. Diese Art, Literatur auf die Bühne zu bringen, entspricht dem Mainstream des deutschen Schauspiels. Sie ist Kennzeichen von Stagnation.
Die Theaterdichter sind emigriert und haben sich bei Film, Fernsehen und Serien als Drehbuchschreiber verdingt. Auf der Szene aber, wo früher das Neue entstand und zur Diskussion gebracht wurde, entfaltet sich jetzt das Virtuosentum der Interpreten. Gegenüber den Stücken erhebt es Anspruch auf Gleichwertigkeit; will "auch Werk" sein. Anstatt der Vorlage zu dienen, blickt es auf sie herab.
So kommt es, dass am deutschen Theater heute kein Ich mehr auftritt, dessen Text nicht von mehreren Personen abwechselnd zitiert würde. Das Darstellen jedoch, das Heraufbeschwören, das Verkörpern – einst ihr Kerngeschäft – hat die deutsche Bühne den Bildmedien überlassen. Anders verhält es sich in Frankreich, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten. Dort würde "Eurotrash", der Roman von Christian Kracht, heute durch einen einzigen Darsteller vorgetragen.
In Paris laufen zur Zeit Abend für Abend mehrere Aufführungen im Format "seul en scène". In den kleinen Theatern gibt es ein paar Scheinwerfer, sonst ist der Ort völlig schwarz. Auf einem Drehstuhl sitzt ein Mann mit Hut. Unvermittelt fängt er an zu reden. Eigenbrötler breiten gern ihre Sachen aus, ohne sich zu kümmern, wen das interessiert. Für sie bildet ihr kleines Ich das Zentrum: Was es denkt, was es empfindet, was ihm widerfährt. Das Publikum wird rasch in das Gravitationsfeld des Zwergsystems eingesogen. Bald gibt es im Raum nichts Wichtigeres mehr als die "erste Liebe" (Premier amour), die erste Erzählung, die Samuel Beckett auf Französisch verfasst hat.
Auf dem Drehstuhl spricht Jean-Quentin Châtelain den Text als jener Eigenbrötler, den Beckett "ich" sagen liess. Vom Nachlassverwalter erhielt der Regisseur Jean-Michel Meyer die Aufführungsrechte unter der Bedingung: "Keine Musik, kein Dekor, keine Gestikulation", als hätte der aktuelle deutsche Theaterstil um jeden Preis verhindert werden sollen. Unter dieser Vorgabe steigert sich Becketts "Premier amour" vom Schauspiel zur Begegnung.
"Eurotrash" aber bleibt seinen Zuschauern ein gleichwertiges Erlebnis schuldig. Vergessen ist Ludwig Mies van der Rohes Warnung: "Weniger ist mehr." Vergesslichkeit ist eben, wie die heutige Lage zeigt, nicht nur die Krankheit von Christians Mutter ...
Der lineare Text ...
... ist aufgebrochen ...
... in mehrere Ichs.