Faktenchecker im Angriffsmodus. © Joel Schweizer.

 

 

Das kurze Leben der Fakten. Jeremy Kareken et al.

Schauspiel.

Angelika Zacek. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. November 2023.

 

> Ein gut gemachtes Stück. Kein Wunder, dass es ankommt. Es führt nach New York. Es führt nach Las Vegas. Es führt ins Pressemilieu. Es hat's an den Broadway geschafft. Kein Wunder, mit fünf Autoren: Zwei für die Buch- und drei für die Theater­fassung. Damit kommen aber auch schon die Fragezeichen ins Blickfeld. Broadway bedeutet mehrheitsfähiger Durch­schnitt. Fünf Autoren bedeuten Mittelkurs ohne individuelle Hand­schrift. Gut gemacht bedeutet redliches Handwerk ohne Genie. So unterhält man sich beim "kurzen Leben der Fakten" ganz anständig, keine Frage. Die Aufführung trägt durch den Abend. Doch von Literatur kann niemand reden. <

 

Sprungfreudig kommt Gabriel Noah Maurer zum Applaus nach vorn. Er war das aktive Element in der zweistündigen Aufführung. Wie ein eifriger, junger Hund erschnüffelte er beim Faktencheck die Ungereimtheiten hinter einem Essay. Seine Initiative brachte die beiden anderen Figuren ins Rotieren: die Redaktorin des New Yorker Magazins, bei dem er als Praktikant eingestie­gen war, und den prominenten Starautor. Am Ende lief die Handlung auf die Frage zu: Was ist wichtiger? Die Unerschüt­ter­lichkeit der Fakten oder die Wahrheit, die durch den Text zur Erscheinung kommt?

 

Die Frage ist älter als das aktuelle Problem der Fake News. Auf der grundsätzlichen Ebene, die das Stück abhandelt, geht es um die Unterscheidung von Journalismus und Dichtung. Auf der Bühne verlangt der Autor, dass man seine Produkte nicht "Artikel" nenne, sondern "Essays". Es gehe darin um Höheres als simple Berichterstattung. Aus diesem Grund, behauptet er, dürfe er die Dinge zurechtbiegen. Nur wenn ein Text die Sphäre der Realitätsschilderung hinter sich lasse, rage er in die Kunst hinein und werde relevant.

 

Das Problem stand schon vor über 150 Jahren in Berlin zur Debatte:

 

Die Anfechtungen, die das Stück erfahren hat [Heinrich von Kleists "Prinz Friedrich von Homburg"], haben sich auch in der Tat immer nur darum gedreht, ob das Gewollte ein Wollenswertes, überhaupt ein Zulässiges war; mit anderen Worten, ob es gestattet war, den Heldenprinzen, der am Tag von Fehrbellin bereits seit siebzehn Jahren ein silbernes Bein und seit vierzehn Jahren einen goldenen Trauring trug, nicht nur nach dem Vorbilde des Goetheschen Egmont in einen jugendlichen Liebhaber, sondern die Metamorphose steigernd sogar in einen romantischen jugendlichen Liebhaber, wie er nur im Jahre 1810, in der Zeit von Tieck, Kleist und Novalis denkbar war, umzuwandeln? (Theodor Fontane, 1876)

 

Unter dem Titel "Das kurze Leben der Fakten" arbeitet das Stück zum heutigen Mediendiskurs die gegensätzlichen Positionen klar heraus. Auf der Bühne von Biel–Solothurn prallen Autor und Faktenchecker aufeinander, und in der Mitte steht die Redaktorin. Die Konstruktion beruht auf dem klassischen Dreieck. Laut Eric Berne, dem Vater der Transaktionsanalyse, besteht das "drama triangle" aus den Rollen (a) Angreifer, (b) Opfer und (c) Polizist.

 

Im Lauf des dramatischen Konflikts wechseln die Rollen. Das Opfer wird zum Angreifer (der Autor würgt den Faktenchecker). In diesem Moment wird der Angreifer zum Opfer (der Faktenchecker liegt am Boden). Später wird der Polizist zum Opfer (der Redaktorin entgeht eine Geschichte). So jagen sich alle im Kreis herum, bis die Handlung abgespult ist.

 

"Das kurze Leben der Fakten" bringt, wie man sieht, klare inhaltliche Positionen, basierend auf einem wirksamen drama­tur­gischen Gerüst. Das ist Broadway. Die Produktionen versagen aber häufig vor der Frage: "Sind die Personen lebendig?" So auch hier.

 

In den Stücken von Ibsen oder Shaw haben die Figuren Relief. Hinter dem, was sie sagen, steckt etwas weiteres, Ungesagtes. Hier nicht. Argumentative Position und Mensch decken sich zu hundert Prozent. Das macht die Charaktere flach. "Die dritte Dimension fehlt, wie bei einer ausgeschnittenen Papierpuppe oder einer Figur aus den sogenannten 'Mandelbögen' " (Heimito von Doderer).

 

Erkennbar wird das Manko am Gleichschritt des Spiels. Die Inszenierung von Angelika Zacek enthält zwar viele energische Szenen und mehrere wirkungsvolle Pausen. Aber innerhalb der Abschnitte findet sich kein organischer Rhythmus. Und wie könnte er sich auch bilden? Die Psychologie fehlt. Die Figuren stammen aus sogenannten "Mandelbögen".

 

Alle versehen ihren Part auf der Bühne ganz anständig: Silke Geerts als Redaktorin, Nicolas Rosat als Autor und Gabriel Noah Maurer als Faktenchecker. Die Aufführung trägt mit Zug und Spannung durch den Abend. Doch von Literatur kann niemand reden.

 

Redaktorin im Befehlsmodus.

Autor im Angriffsmodus. 

Autor im Opfermodus. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0