Eine Kostbarkeit des Repertoires. © Klara Beck.

 

 

Lakmé. Léo Delibes.

Oper.

Guillaume Tourniaire, Laurent Pelly. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. November 2023.

 

> Schönheit und Noblesse. Beide sind schuld, dass "Lakmé" so gut wie nie auf den Spielplan kommt. Die Titelrolle verlangt eine Sopranistin allerersten Ranges. Ihre Blumen- und Glöckchen­arie, die beiden Kostbarkeiten des Gesangsreper­toires, können nur von einer leichten, beweglichen, leuchtend hellen und doch nie grellen Stimme gegeben werden. Wenn aber die geforderte Schönheit und Noblesse von Léo Delibes' Kompo­si­tion erreicht wird, findet der Applaus kein Ende, und "Lakmé" wird zu einem weiteren Ruhmesblatt der Strassburger Rheinoper. <

 

Jakob Robert Schmid, weiland Ordinarius für Erziehungslehre an der Universität Bern, stellte fest:

 

Alles beobachtbare, nicht durch die Notwendigkeit nackter Lebenserhaltung festgelegte Verhalten des Menschen zeigt, dass er in Spannung lebt. Die herkömmlichste Bezeichnung dafür redet von einer Spannung zwischen "Gutem" und "Bösem" in ihm, eine vorsichtigere von der Spannung zwischen "Trieb" und "Geistigkeit". Und alle Selbsterfahrung wie auch manche Fremderfahrung zeigen, dass diese Spannung den Menschen immer wieder in Konflikte bringt, ja seinem inneren Leben etwas Zerrissenes gibt. Aber auch mit der Welt, in der der Mensch lebt, gerät er immer wieder in Konflikt, und die Welt, die bis heute aus menschlichem Verhalten hervorgegangen ist, ist Produkt und Abbild menschlicher Konflikthaftigkeit: Sie ist nicht "heil".

 

Die Spannung, von welcher der Berner Erziehungsphilosoph spricht, durchzieht auch Lakmé – das Werk und die Figur. Die Handlung spielt 1883, zur Entstehungszeit der Oper, in Indien. Zwei Kulturen stehen in Konflikt: die östliche und die westliche. Die Waffen der Besatzer halten die Bevölkerung in Schach; doch schon brodelt es im Untergrund. Rache und Revolte bereiten sich vor.

 

In dieser Lage wird Lakmé, die Tochter eines Priesters, die wegen ihrer Keuschheit von den Einheimischen als Heilige verehrt wird, vom Blitz der Liebe getroffen – und gespalten. Die Begegnung mit einem englischen Offizier lässt noch nie erlebte Gefühle in ihr aufspringen. Der Traum von einer Verschmelzung, die allen Wider­streit überwindet, erwacht beim Anblick des Fremden. Und auch der Engländer wird hin und hergerissen zwischen der Loyalitätspflicht eines Heeresange­hörigen und dem Zug seines entflammten Herzens.

 

Im Plot von "Lakmé" wiederholt sich, wie man sieht, das Norma-Motiv, das seinerseits aufs Romeo-und-Julia-Motiv zurückgeht. Originell ist das Libretto von Edmond Gondinet und Philippe Gille folglich nicht. Aber dafür wirkungsvoll. Es bringt ein stark gezeich­netes "Abbild menschlicher Konflikthaftigkeit". Dafür verlegt es den Spielort, der Mode folgend, von Gallien bzw. Verona in den fernen Osten.

 

Was aber mit der Mode geht, vergeht mit der Mode. Die üppig wuchernden Blumengärten des Orients (ein Fressen für die Kulissenmaler der Pariser Opéra Comique), die farbigen Märkte der volkreichen indische Städte (ein Challenge für die Chor- und Statisterieleiter), die kaum dem Mädchenalter entwachsene jungfräuliche Priesterin (eine Seligkeit für die Mäzene der Gesangskünstlerinnen) und die von Tenor und Sopranistin gelieferten Spitzentöne (eine begehrte Gelegenheit, Konkurrentinnen und Konkurrenten in den Schatten zu stellen) trieben die Oper in der Publikumsgunst 1883 nach oben und zehn Jahre später, bei aufkommendem Verismus, nach unten.

 

Heute sind die Verhältnisse klar. Die Partitur von Léo Delibes ist ein Meisterwerk der École française. Stilistisch und kompositorisch steht sie zwischen Bizets "Carmen" (wo ebenfalls der Konflikt zwischen der Ehre eines Soldaten und der Liebesverführung durch eine Fremde abgehandelt wird) und Debussys "Pelléas" (wo ebenfalls eine Schmachtende einem Fremden erliegt).

 

Die Melodien sind durchzogen von der Brüchigkeit des Parlandostils, und die Orchesterstimmen sind hell und durchsichtig wie das feinziselierte Getriebe einer Grande Complication. Gegenüber den schweren Brocken der deutschen Schule erweist sich "Lakmé" als Delikatesse. Und da das Werk so gut wie nie gegeben wird, darf die Produktion der Strassburger Oper Anspruch auf die Auszeichnung "Entdeckung des Jahres" (wenn nicht des Jahrzehnts) erheben.

 

Die Transparenz der Partitur wird von Laurent Pellys meister­licher Regie aufgenommen. Minimalistisch in Dekor und Per­sonen­führung schafft sie Raum für den Kern des Werks. Er besteht aus einem raffiniert abge­stuf­ten Wechsel der Intensi­täten. Damit erwächst auf der Strass­burger Opernbühne ein Gesamtkunstwerk eigener Prägung, wo hinter Handlung und Musik "etwas anderes" auftaucht: "Das Erlebnis des Menschseins und seines Seins in der Welt" (um noch einmal Jakob Robert Schmid zu zitieren).

 

Alle Beteiligten sind auf der Höhe: Das Orchestre symphonique de Mulhouse unter der Leitung von Guillaume Tourniaire, das Ensemble, der Chor, der Tenor (Julien Behr) und, als Lakmé, Sabine Deveilhe. Mit ihrer leichten, beweglichen, leuchtend hellen und doch warmen Stimme erweist sie sich als Sopranistin allerersten Ranges. Und der Applaus für die Aufführung der selten gespielten Kostbarkeit nimmt erst ein Ende, als das Licht abgedreht wird.

 

Die keusche Jungfrau. 

Der volkreiche Markt. 

Das tragische Ende. 

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