Roméo et Juliette. Charles Gounod.
Oper.
Sebastian Schwab, Éric Ruf. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. November 2023.
> "Sehr gut. Aber so kann man die Geschichte nicht bringen. Doch keine Sorge. Wir kommen dir mit unserem Handwerk, unserer Theatererfahrung und unserem besseren Wissen zu Hilfe, wie man ein effektvolles Drama baut, lieber William." Unter diesen Worten setzten sich die Routiniers Jules Barbier und Michel Carré an den Schreibtisch und zimmerten für den Musikhandwerker Charles Gounod ein Libretto, das die berühmteste Liebesgeschichte der Welt zu Nummern und Arien für Sopran, Tenor, Bariton, Bass und Chor umorganisierte. Jetzt führen die Bühnen Bern mit "Roméo et Juliette" nicht mehr die Tragödie "von", sondern eine Oper "nach" Shakespeare auf. Das Resultat ist zwar immer noch sehr gut, doch laufen den ganzen Abend ein paar leise Aber mit. Und die lassen sich mit Handwerk nicht wegzaubern. Dafür brauchte es eine Extraportion Genie. <
Hinter der Aufführung von "Roméo et Juliette" stehen zwei Umwandlungen: Erstens wurde die Tragödie von William Shakespeare unter den Händen von Jules Barbier, Michel Carré und Charles Gounod zu einem konventionellen Werk fürs französische Musiktheater; und zweitens wurde die Sprechtheater-Inszenierung von Éric Ruf, vor zehn Jahren für die Comédie-Française erarbeitet, im Stadttheater Bern zur Oper.
Die Umwandlung des Schauspiels zur Oper erlaubte es Charles Gounod, famose Gesangspartien zu gewinnen: "Zwei Tenorarien Romeos, einen frohen Walzer Julias und einiges aus den innigen Liebesszenen". Laut Kurt Pahlen wurde "Roméo et Juliette" zu einem der meistgespielten Titel der Pariser Oper. Im 20. Jahrhundert eröffnete die New Yorker Met mit Gounods Werk viele Jahre die Spielzeit. Eine Generation lang sang Adelina Patti (1843-1919) die Julia. Sie identifizierte sich derart mit der Rolle, dass sie ihren Partner Ernst Nicolini, den Roméo so vieler Vorstellungen, heiratete.
Charles Gounod war, Kurt Pahlen zufolge, "ein glänzender Melodiker, zudem ein wahrer Kenner aller musikalischen Künste". Nicht zu übersehen sei zwar "eine gewisse, manchmal stark aufgetragene Süsslichkeit seiner Musik" doch müsse sie "eher dem Zeitgeist als ihm zur Last gelegt werden".
Dem Zeitgeist unterworfen haben sich ebenfalls die Librettisten Jules Barbier und Michel Carré. Für die Zwecke des Musiktheaters haben sie den farbigen, nervösen, vielschichtigen Text von Shakespeare vereinfacht, vergröbert, banalisiert, kurz: nach den Regeln der damals herrschenden Opernkonvention zurechtgestutzt. Das Resultat führte Percy A. Scoles zum Fazit: "Wer Shakespeare liebt, liebt nicht Gounod." Der Gelehrte der Universität Oxford konzedierte zwar: "Er hatte ein Talent für den Gesang, ein Talent fürs Drama und ein Talent für eine sehr angenehme Orchestrierung; in der Tat hatte er alle 'populären' Qualitäten, neigte aber zu sehr zum Effeminierten und Sinnlichen."
Im Bühnenbild aus der Comédie-Française, für das, wie für die damalige Inszenierung, schon Éric Ruf, der Herr des Hauses, zeichnete, treten nun in Bern drei weitere Nachteile der Gounodschen Opernform ans Licht:
1. Gegenüber dem Schauspiel ist das Zeitmass zu starr. Die Auftritte lassen sich nicht aus der Bewegung entwickeln, weil das Werk aufs "Tableau" hin organisiert ist und nicht auf Dynamik. Damit wird der dramaturgische Fluss in abgerissene Einzelszenen zerschnipselt, die nicht dem Drama, sondern der sängerischen Entfaltung dienen.
2. Im Unterschied zum Schauspiel werden bei der Oper Handlung und Personen nicht vom Spiel der Künstler getragen, sondern von den Stimmen. Durch diese Verlagerung entsteht – gerade bei Barbier-Carrés Konventionalität und Gounods flotter Schreibe – in "Roméo et Juliette" an vielen Stellen der Charakter hohler Oberflächlichkeit.
3. Damit verliert das Werk an Atmosphäre. Es wird plakativ. Und da Éric Ruf seine grosse Inszenierung zum Ausgangspunkt nimmt, entsteht bei der Umsetzung nichts Neues, Kreatives, Mutiges mehr. Deshalb erscheint jetzt die Oper gegenüber dem Original als Reduktion, Verkleinerung, Verarmung der Tragödie.
Wer Bern nicht mit Paris und die Oper nicht mit dem Schauspiel vergleichen kann, reagiert auf die Umwandlung mit einem Gefühl respektvoller Langeweile. Ohne explizit werden zu können, erinnert sich der Unbefriedigte an den Refrain des achten Bilds von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (Alle wahrhaft Suchenden werden enttäuscht):
Man raucht.
Man schläft etwas.
Man schwimmt.
Man schaut das Wasser an.
Man vergisst.
Aber etwas fehlt.
Etwas fehlt auch beim Orchester. Es ist – zumindest an der Premiere – vorwiegend laut und selten intensiv. Es fehlt vielfach an Phrasierung, Durchformung und "Beseelung", wie der unvergessliche Kollege vom "Bund", Martin Etter (-tt-), zu monieren pflegte. Offenbar lag die Partitur weder den Musikern noch dem Dirigenten Sebastian Schwab. Von beiden hat man schon unvergleichlich viel Besseres gehört.
Nicht im Stich gelassen aber wird das Werk von den Sängern. Es ist Ian Matthew Castro als Roméo und Inna Demenkova als Juliette anzumerken, dass sie nicht nur einander lieben, sondern auch ihren Part. Die Demenkova bringt gesanglich und darstellerisch hundert Facetten, und sie durchläuft einen ergreifenden Bogen von der angepassten backfischhaften Tochter zur autonomen, liebenden Frau. Wenn sie sich verströmt in Liebe und Schmerz, hat ihr Gesang Anmut, Schmelz und Innigkeit. Und man kann nur billigen, dass sie sich aus allen Bindungen löst, um Ian Matthew Castros Roméo zu folgen. Der Mann beeindruckt durch seine Lauterkeit. Auch stimmlich.
Umgeben von einem zuverlässigen Ensemble kommt die Handlung mit diesen beiden Trägern der Titelpartien trotz aller Einschränkungen immer wieder zu Höhepunkten, und zwar an jenen Stellen, die der Komponist und seine Librettisten als "wahre Kenner aller musikalischen Künste" dafür eingerichtet haben. Damit bringt die Berner Produktion "alle 'populären' Qualitäten" an den Kornhausplatz, die für einen nachhaltigen Publikumserfolg gebraucht werden.
Das Bühnenbild ...
... aus Paris ...
... ist grossartig.