La Maison du loup. Benoît Solès.
Schauspiel.
Tristan Petitgirard. Théâtre Rive Gauche, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2022.
> Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, dass die Schauspielerin undeutlich spricht. Die Momente, wo die Handlung nicht recht vorankam, sind vergessen. Der Saal ist gepackt. Alle befinden sich in der fensterlosen Einzelzelle des kalifornischen Gefängnisses, vier mal vier Meter, und durch die Wand kommen die Morsezeichen eines Mithäftlings: "Schliess die Augen! Denk an einen geliebten Menschen! Sieh den Ausgang! Nimm ihn!" Das ist Theater: Die Mauern aufbrechen. Die Menschen von hier nach dort führen und weiter zu dem, was jenseits der Wirklichkeit kommt. In der "Maison du loup" ist das zu erleben. Unvergesslich. <
Das Wolfshaus: Eine fürstliche Ranch. 26 Zimmer. Aus einem Trichtergrammophon kommt die Tenorarie der "Perlenfischer". Die Handlung spielt im Sommer 1913.
Der 37-jährige Jack London ist gezeichnet von der Depression. Der Alkoholsucht. Der Nierenkrankheit. Dem Morphium. Der erfolgreichste Schriftsteller seiner Zeit hat noch drei Jahre zu leben.
Früher konnte er das Pensum von tausend Wörtern pro Tag erfüllen. Mit diesem Einsatz brachte er mehr als 50 Bücher zustande, darunter 27 Romane, 4 Dramen, 196 Kurzgeschichten. Jetzt ist er am Ende.
Seine Frau, Schreibpartnerin, Muse, Sekretärin, hofft, dass die Knastgeschichte eines entlassenen Sträflings ihn zum nächsten Buch animiert. Denn Zahlungen sind fällig.
In dieser Lage setzt das Dreipersonenstück ein. Die Geschichte von Jack London rückt in den Hintergrund. Es geht um das, was sich im Gefängnis zutrug. Soeben hat Willkürjustiz einen Chancenlosen zu Tod gebracht.
Die Kunst des Stückesschreibers Benoît Solès liegt darin, die verschiedenen Ebenen so zu organisieren, dass die Befindlichkeit der Beteiligten ans Licht tritt. Er spitzt den Dialogverlauf dermassen zu, dass sich die Anwesenden durch Geständnisse Erleichterung verschaffen müssen. Dabei kommen die Abgründe an den Tag.
Jede der drei Personen hat ihre Solonummer.
Die Frau (Anne Platney), artikulatorisch etwas limitiert, spricht von der enttäuschenden Kinderlosigkeit des Paars; der Erkaltung der Gefühle; der ohnmächtigen Liebe ; sie muss wahrnehmen, wie der Mann dem Abgrund zutreibt.
Der Schriftsteller, mit Amaury de Crayencour stimmig besetzt, gesteht den Hass, der ihn antreibt; er stammt aus frühen Kindheitsverletzungen; jetzt durchschaut der Mann zwar die Mechanismen, steht aber am Ende des Wegs.
Der Fremde (der Autor Benoît Solès selbst), sprecherisch und darstellerisch überragend, hat sich nach der Haftentlassung dafür eingesetzt, den Tod vom Mitsträfling abzuwenden, der ihm durch seine Morsebotschaften das Durchhalten ermöglichte. Jetzt aber ist die Zeit um. Eben wurde der Verurteilte gehängt.
So stehen am Ende des Spiels drei Gescheiterte auf der Bühne.
Doch als Jack London dieser Wirklichkeit ins Auge blickt, geschieht der Sprung über die gegenwärtige Situation hinaus in eine neue Wirklichkeit. Das Buch, das er sich zu schreiben vornimmt, wird zu einer grundlegenden Reform der kalifornischen Gefängnisordnung führen.
So zeigt das Stück, wie die Literatur ins Leben hineinwirkt. Und das Theater ermöglicht die Begegnung mit Menschen und Verhältnissen. Davon werden die Besucher von Tristan Petitgirards Inszenierung berührt. Nachdenklich und aufgewühlt verlassen sie das Pariser Théâtre de la Rive Gauche.
Das Paar und der Fremde.
Eine Geständnisszene.