Eine rätselhafte Mischung. © Tuong-Vi Nguyen.

 

 

Les personnages de la pensée. Valère Novarina.

Schauspiel.

Valère Novarina. Théâtre national de la Colline, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2023.

 

> Theorie und Praxis. Valère Novarina, Schriftsteller, Essayist, Theaterregisseur und Maler, geboren 1942, war, Wikipedia zufolge, für den deutschen Theaterwissenschafter Hans-Thies Lehmann (1944-2022) ein "Beispiel für die Absage an darstellende Repräsentation im postdramatischen Theater". Die Online-Enzyklopädie erklärt, Novarinas Arbeiten liessen sich "mit dem theaterwissenschaftlichen Performativitätsdiskurs in Verbindung bringen, wie er um 2000 von Erika Fischer-Lichte [geboren 1943] formuliert wurde". Was das in der Praxis bedeutet, zeigen "Les personnages de la pensée", die neueste "Kreation" des 81-Jährigen im Pariser Théâtre national de la Colline. Der vierstündige Akt hat die Verständlichkeit einer tridentinischen Messe. Bei den Gläubigen weckt das Ritual tiefe Andacht; bei den Ungläubigen dagegen endlose Langeweile. <

 

Bei der Besprechung literarischer Werke pflegte der Berner Germanist Hans Jürg Lüthi seine Seminare mit der Frage zu eröffnen, um was für eine Sorte Text es sich handle. Gegenüber den "Personnages de la pensée" wäre Stille eingetreten. Dann hätte eine leise Stimme vorgeschlagen: "Kreation". "Gut!", hätte der Professor genickt. "Wie kommen Sie darauf?" "Es steht auf dem Titelblatt."

 

Im konkreten Fall bedeutet "Kreation", dass die Vorstellung nichts Bekanntem gleicht, mit Ausnahme von Becketts Lucky-Monolog aus "Warten auf Godot". Nur handelt es sich dort um einen Text, den ein einzelner vorträgt; hier ist der Text manchmal – aber nicht immer – auf mehrere Sprecher verteilt. Bei Beckett ist der zwölfminütige Text einer Rolle zugeschrieben, die einen Namen trägt (eben Lucky); bei Novarina aber flottiert der vierstündige Text frei in der Fläche. Er sagt nichts über den, der ihn spricht. Er unterstützt keine Handlung. Er hat keine Tiefe. Er steht für sich selbst und zitiert den Allmächtigen: "Ich bin, der ich bin."

 

Wie bei Beckett ist der Text durchsetzt mit sinnlosen Silben (kwakwakwa), Neologismen, Zitatallusionen und pseodogelehrten Zuschreibungen (Poinçon und Wattmann). Weil er nichts bedeutet als sich selbst, kann eine Person rufen: "Von jetzt an ist alles wahr!" Denn die Sprache spielt nichts vor und verweist auf nichts, was sich ausserhalb der Bühne, zum Beispiel im Imaginären, befindet.

 

Damit entfallen die Interaktionen. Gesprochen wird nach vorn, nicht zueinander. Wenn mehrere Personen reden, formulieren sie aufgesplittete Monologteile. Die Abwechslung ist rein äusserlich: Mal sind die Redeteile kürzer, mal länger. Mal werden sie von Musik begleitet, mal gesungen. So verhält es sich auch mit Valère Novarinas Bühnenbildelementen, die ohne Sinnbezug herumgeschoben werden. Sie bilden zwar wechselnde, aber gleich-gültige Konstella­tionen.

 

Bei der Spannungslosigkeit der "Kreation", die Aspekte bloss flüchtig berührt, übernimmt das Publikum bald den Aufmerk­samkeits­modus des Hundes und sitzt die vier Stunden ergeben ab. Neues wird kurz beschnuppert, dann igno­riert, und der Kopf sinkt wieder zwischen die Pfoten. Die Augen lassen den Katalog schwacher Kalauer ohne Bewegung vorbeiziehen: "Um welche Zeit fährt der Zug?" "Um drei Kilo zwei."

 

Applaus gibt es für solistische Einlagen (instrumental oder gesprochen). Anspielungen an Bekanntes werden mit Äusserungen der Freude begrüsst. (Dafür genügt der deformierte Name eines Politikers oder Schauspielers.) Und wie beim Hund wecken schliesslich "Arsch", "Loch" und "Schwanz" die lebendigsten Reaktionen. Man sieht: "Les personnages de la pensée" ist das Stück zur aktuellen Literatur- und Theatertheorie.

 

Vor Theorie gehen die Intellektuellen in die Knie. Sie können an Valère Novarinas "Kreation" ihre Deutungs­intelligenz vorführen. Die Halbgebildeten zeigen durch lautes Gelächter an, dass sie auch alle Pointen verstehen und dazugehören. Die Gewöhnlichen hingegen begreifen nichts und kommen sich dumm vor. Doch unter allen Anwesenden wagt keiner zu gestehen, er finde die Produktion "ennuyeux comme les pierres" (oberlang­weilig). Für solch selbstdiffamatorische Unkultiviertheit müsste einer aus Bümpliz sein.

 

Das Stück zur Theorie. 

 
 
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