Angela. Susanne Kennedy.
Schauspiel.
Susanne Kennedy, Markus Selg, Rodrik Biersteker. Odéon – Théâtre de l'Europe, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. November 2023.
> Wenn die Professoren der B...er Lesegesellschaft zusammengekommen waren, um anspruchsvolle Autoren wie Kleist, Eich, Doderer oder Kafka zu besprechen, verabschiedete sich der Virologe immer mit den Worten: "Ich habe viel gelernt." Das können nun auch die Besucher von "Angela (a strange loop)" am Pariser Festival d'automne sagen, sofern sie bis zum Schluss der Vorstellung im Saal blieben. <
Wer es geschafft hat, in den erlauchten Kreis hineinzukommen, kann unter dem Label "Focus Susanne Kennedy" durch Europa touren. Hinter "Angela (a strange loop)" steht ein halbes Dutzend Koproduzenten: Die Wiener Festwochen, das Festival d'automne Paris, das Festival d'Avignon, das Holland Festival, das Kulturfestivaldesarts Brüssel, das National Theater Drama / Prague Crossroads Festival, das Romeuropafestival, das Teatro Nacional de Sao Joao (Porto) und die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Sie werden unterstützt von der Ammodo Foundation, der deutschen Kulturstiftung des Bundes, dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Unternehmensstiftung von Hermès.
Mit ihrer Unterschrift dokumentieren die Funktionäre: "Jawohl, das ist der gültige Ausdruck unserer Zeit!" und verleihen der Produktion die Würde von Staatskunst. Sie repräsentiert die Epoche und zeigt, in welche Richtung es gehen soll. Zunächst einmal: Weiterentwicklung von Video ("Entwicklung" ist ohnehin das Wort des Jahrhunderts). Noch nie waren die Projektionen so hell, so scharf und so genau in die Szene eingepasst wie bei "Angela" (Rodrik Biersteker, Markus Selg). Und zum ersten Mal hatten sie (man frage nicht, wie das zustandekam) dreidimensionale Qualität, so dass die verschiedenen Teile des Bühnenbilds ein rätselhaftes Eigenleben annahmen.
Durch Verschiebungen im Dekor entstand der "strange loop", der die Darstellerin von Angela in eine verstandesmässig unübersichtliche und zeitlich widersprüchliche Agglutination verschiedener Ichs zerlegte. Auf diese Weise glitt die Aufführung mit bewegten Bildern und phantastischen, teuren Lautsprechern ins Zentrum einer Psychose: Die Kranke kriegt die Dinge nicht mehr auf die Reihe. Und unsere Zeit auch nicht.
Um das zu zeigen, greift Susanne Kennedy, die Urheberin der Produktion, auf die Schwarzkunst der Alchimie zurück und sucht Gleiches mit Gleichem zu heilen: Das von der Vernunft Losgebundene wird mit Prozeduren, die ausserhalb der Vernunft liegen, beschworen. Als Tagreste tauchen Elemente der Wirklichkeit wie TikTok und McDonald's auf und verschwinden wieder. Was jedoch hinter den Wechseln bestehen bleibt, ist die Frage: "Wer bin ich, und wenn ja: Wie viele?" Dergestalt bekämpfen sich bei der Identitätsproblematik Virtualität und Realität, und der Schlussapplaus selbst wird zur Schlaufe, indem er zuerst aus dem Off kommt, dann aus dem Saal.
Was die Produktion, die ein Zeugnis sein soll für unsere Zeit, kennnzeichnet, ist die Abwesenheit des Dichters. Das Wort selbst hat es nicht ins 21. Jahrhundert geschafft. Die Theaterleute machen das Theater heute lieber ohne ihn.
Ohne Dichter aber können sie die Zustände nur schildern, nicht "entwickeln" (da haben wir wieder das Wort!). Darum bringen sie anstelle von Geschichten in der Regel bloss Bilder. Nicht verwunderlich, hat das Erzählen im deutschen Theater heute den gleichen Status wie die Gegenständlichkeit in der Malerei und die Tonalität in der Musik.
Zur Zeit regiert im Drama, das ursprünglich von "laufen" kommt, Statik anstelle von Dynamik. Deswegen wollen die hundert Minuten von "Angela (a strange loop)" nicht vorbei. Die Aufführung wirkt gleich zäh wie die richtungslose Gegenwart. Und weil ihr aller Humor fehlt, macht sie traurig und lastet auf dem Gemüt. Aber kulturgeschichtlich lässt sich viel lernen.
Die Kranke kriegt die Dinge nicht mehr auf die Reihe.
Und unsere Zeit auch nicht.