Neoklassizismus auch auf der Bühne. © Andreas Zimmermann.

 

 

The Rake's Progress. Igor Strawinsky.

Oper.

Yannis Pouspourikas, Maria Riccarda Wesseling. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Oktober 2023.

 

> Zwei Fragen bleiben am Schluss unbeantwortet: 1. Warum wurde die Oper überhaupt gegeben? 2. Was wollte die Inszenierung mit ihr sagen? Drei Akte und drei Stunden lang läuft das Ganze so uninspiriert und konturlos über die Bühne, dass es als konzertante Aufführung besser gewirkt hätte. Nichts hätte abgelenkt vom präzisen, nüchternen Orchesterklang, mit dem Igor Strawinsky den Irrweg eines Wüstlings in den Wahnsinn begleitet. Und die Stimmen – in Biel/Solothurn immer gut bis hervorragend – wären ohne ungelenkes Herumstehen, Kauern und Liegen schöner, weil ablenkungsfrei, zur Geltung gekommen. Jetzt aber ist "The Rake's Progress" eine durchmischte Sache. Szenisch uninteressant, akustisch ein Labsal. <

 

Nach den wilden Jahren seiner Jugend, wo er der Musikgeschich­te mit dem Donnerschlag des "Sacre du printemps" eine neue Richtung gab, suchte Igor Strawinsky im Alter, der ungeregelt intuitiven, frei fliessenden Invention genau abgemessene, strenge Formen entgegenzusetzen. Das letzte, was er schrieb, unterwarf er der Serialität; also einer Kompositionsweise, bei der zuerst das Prinzip kommt, dann die Musik.

 

Vom selben Streben, Chaos durch Gesetz zu bändigen, ist auch die vorletzte Schaffensphase gezeichnet. Hier stellt Strawinsky historische – das heisst durch die Vergangenheit sanktionierte – Formen dem Verfall gegenüber. Diese Rückkehr zum Klassizismus, den die Zeitgenossen als "Neoklassizismus" verdammten (Pierre Boulez: "Ein Irrweg!"), ist nun aber, von strengster künstlerischer Warte aus betrachtet, eine überzeugende, um nicht zu sagen: die angemessenste Darstellungsweise von "The Rake's Progress".

 

Unter diesem Titel schuf William Hogarth ("der durch seine witzigen Zeichnungen berühmt gewordene englische Maler und Kupferstecher") eine Serie von acht Gemälden, die er danach in Form von Kupferstichen popularisierte. "Das beste deutsche Werk dazu", erklärt der Brockhaus von 1838, "sind Lichtenbergs 'Erklärungen der Hogarth'schen Kupferstiche' ".

 

Im Kommentar zur ersten Platte schrieb der hellste Kopf des 18. Jahrhunderts:

 

Ehe ich mich zu der Erläuterung dieser von Laune, Witz [= Geist] und Weltkenntnis überströmenden Platten selbst zuwende, wird es nicht unnütz sein, einiges über das Wort 'Rake' vorauszuschicken. Man übersetzt es gewöhnlich im Deutschen durch 'Liederlicher'. Der eigentliche 'Rake' (männlichen Geschlechts, versteht sich) trinkt, spielt und hurt; macht aus Nacht Tag und aus Tag Nacht; er ruiniert unschuldige Geschöpfe, die ihn liebten, und schiesst sich mit Leuten, deren Ehre er gekränkt hat; wirft überall Geld weg, eigenes und fremdes durcheinander und nicht selten sich selbst hintendrein.

 

Diesen Weg, der bei Hogarth ins Zucht- und schliesslich ins Irrenhaus führt, hat Stephan Bundi auf dem Programmheftum­schlag als Treppe dargestellt, die ins Höllenfeuer hinunter­leitet. Und damit hat der absolute Meister der Theaterwerbung (gerade hat er mit dem "Cyrano"-Plakat für Theater Orchester Biel Solothurn den "Red Dot Award Best of the Best Communication Design 2023" gewonnen) das Wort "Fortschritt" (Progress) mit einer ironischen Beleuchtung versehen.

 

Seine Darstellung entspricht Strawinskys Auffassung. Für den Komponisten ist "The Rake's Progress" ein durch und durch dialektisches Werk. Dem moralischen und menschlichen Verfall des Helden entgegnet die Musik mit strengster Zucht und Form. "Es gibt in dieser Oper einen Zwiespalt zwischen dem Gefühlsinhalt der Szene, der dramatischen Situation und ihrer musikalischen Ausdeutung", bemerkte dazu Kurt Pahlen. Das Ende des Wüstlings, also seine Vernichtung, führe zu Verklärung:

 

Die treuliebende Ann, die ihm mehrmals vergebens beizustehen versucht hatte, erscheint ihm wie ein lichtes Bild. Sie bettet seinen müden Kopf in ihren Schoss und singt ihn, den vom Leben Zerschlagenen, Zerrütteten, in Schlaf. (Dies ist wahrscheinlich die schönste Szene des Werks.)

 

So bildet künstlerische Dialektik den Gipfel der Entwicklung: Auf Verfall und Tod antwortet die Schönheit. Und mit dem Neoklas­si­zi­smus nimmt Igor Strawinsky am Ende seiner Laufbahn die Ästhetik von Verdis und Puccinis grossen opernhaften Sterbeszenen wieder auf. "The Rake's Progress" bringt "Sein und Zeit" nicht, wie bei Heidegger, als schwere existen­tialistische Theorie, sondern, wie bei Mozart, als leichten, verspielten, musiktheatralischen Vorgang.

 

Die intrikate Partitur setzt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn wunderbar um: klangschön, alert, präzis. Es wird aber auch von einem Meister geleitet, dem neuen Chefdirigenten Yannis Pouspourikas. Mit seiner Riesenerfahrung, genährt durch regelmässige Arbeit an der Pariser Nationaloper, trifft er den federnden Rhythmus und die abstrakte Kälte, welche die menschlichen Geschicke in dieser Oper ironisch begleiten. Mit diesem Gipfelpunkt der Dialektik leistete sich der Komponist eine letzte Frivolität: Engführung von Himmel und Hölle, Gott und Mensch, Kunst und Realität, Anmassung und Vernichtung. Eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. 1950 kann man das komponieren.

 

Leider antwortet die Inszenierung von Maria Riccarda Wesseling nicht mit adäquater Chuzpe auf Strawinskys schweren Brocken. Seine neoklassizistische Anlage wird von der Bühne lediglich weitergeführt, nicht aber weitergedacht. Damit imitiert die Szene die gediegene Statik des sogenannten werktreuen, abstrakten Opernstils. Er beschränkt sich weitgehend auf Kostüme und Haltungen. Wie pauschal das ausfällt, zeigt sich am deutlichsten – aber auch am enttäuschendsten – an der Behandlung des Chors. Bei ihm schafft die Regie keine erhellenden Verknüpfungen mit Epoche, Situation, Persönlich­keit. Und warum? "Zuerst muss man etwas zu sagen haben. Oh, damit kommt man weit." (Schopenhauer)

 

Zum Glück sind die Solisten ihrer Aufgabe gewachsen. Mit ihnen gestaltet sich die musikalische Seite der Aufführung aus einem Guss. Als Einspringer für John Porter übernahm William Morgan die Partie des Wüstlings mit einem äusserst sauber geführten Tenor von angenehm metallischem Beiklang. Man hätte die Umbesetzung gar nicht bemerkt, wenn nicht der junge Wüstling im vorproduzierten Video eine andere Haarfarbe aufgewiesen hätte als der erwachsene.

 

Untadelig Robert Koller als Vater. Engagiert, aber darstellerisch suboptimal, die beiden Gestalten des Bösen: Simon Schnorr als Nick Shadow und Candida Guida als Baba the Turk. Überwältigend schliesslich, und alle überstrahlend, Marysol Schalit als Ann mit ihrem goldenen, nuancenreichen, ausdrucks­starken Sopran. Falls sie der Grund war, "The Rake's Progress" anzusetzen, kann man nur applaudieren und bravo rufen.

Der Chor erscheint ... 

... verhüllt ... 

... und pauschal. 

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