Das raffinierte Bühnenbild macht schon die halbe Miete. © Joel Schweizer.

 

 

Stiller. Max Frisch.

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman.

Deborah Epstein, Florian Barth, Michael Nobs. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. September 2023.

 

> Zum Saisonbeginn bringt Theater Orchester Biel Solothurn vom guten alten Max Frisch, was seine Freunde lieben: Schweiz­kritik, Identitätsproblematik, Beziehungspuff. Daran erkennt man seinen Pappenheimer. Mit klaren Konturen setzt die Bühne die Züge seiner Réduit-Schweiz um und setzt sich damit in Achtung. Denn die Inszenierung bringt, was den Stoff von "Stiller" (eigentlich ein Roman) ausmacht, in überzeugender Beleuchtung und stimmiger Tonart – dank hervorragend geführter Schauspieler. Aber die Aufführung zeigt ebenfalls: "Yesterday is over." Und damit, ob einem das gefällt oder nicht, auch der gute alte Max Frisch. <

 

Ö1, der beste deutschsprachige Kultursender, brachte in den Sommerreprisen die Wiederholung des Besuchs bei einer humorvollen, sensibel aufgeschlossenen Lyrikerin von 27 Jahren. Sie stellte die Bücher vor, von denen sie sich nährt und zu denen sie immer wieder zurückkehrt: Ein paar wenige Autoren allerersten Ranges, "nicht Schiller und Goethe". Für die junge, gescheite Literaturfrau sind die Weimarer Dichter, gähn, passé. Sie haben ihr nichts zu sagen, nichts für ihr Leben, nichts zu unserer Zeit.

 

Für heute Schreibende ist es unerheblich, dass man, wie Egon Friedell in seiner "Kultur­geschichte der Neuzeit" erklärte, "die Jahre von etwa 1770 bis 1780 das 'Zeitalter Goethes' nennen" kann:

 

Damals galt Goethe wirklich als der Führer der deutschen Jugend. Fast alle seine Novitäten schlugen ein, machten Schule, wurden von Bewunderern und Gegnern als Programm­kunst gewertet. Besonders im "Werther" erkannten sich alle wieder. Sogar Napoleon las ihn siebenmal. Ein Platzregen von Kopien, Fortsetzungen, Dramatisierungen, Kommentaren, Gegenschriften, Parodien ging über Deutschland nieder; man übersetzte ihn sogar in einige aussereuropäische Sprachen. Jeder empfindsame Jüngling spielte mit dem Gedanken, das Ende Werthers nachzuahmen, und einige erschossen sich wirk­lich; jedes empfindsame Mädchen wollte geliebt werden wie Lotte: "Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau", sagte Madame Staël.

 

Dem gleichen Schicksal wie Goethe unterlag, zweihundert Jahre später, gähn, Max Frisch. Als 1954 sein Roman "Stiller" erschien, war der Erfolg derart gross, dass Frisch den Architektenberuf aufgeben und fortan vom Schreiben leben konnte. Mit dem Titel durchstiess der Suhrkamp-Verlag zum ersten Mal die Millionengrenze. "Stiller" wurde in zwanzig Sprachen übersetzt. Die Zeit erkannte in der Identitäts­problematik, dem Beziehungspuff und der Schweizkritik ihre Gebrechen wieder.

 

In der Adenauer-Ära durchlebte Deutschland bleierne Verhältnisse. Aber auch in der Schweiz kannten die Leute nichts als "schwyge u chrampfe". Die meisten sahen sich gezwungen, eine von Schicksal und sozialem Druck zugewiesene, fremdbestimmte Rolle zu spielen. Aus diesem Grund vernahmen sie jetzt im ersten Satz des Romans "Ich bin nicht Stiller!" den unterdrückten Schrei ihres Herzens. Denn auch sie wurden für etwas genommen, das sie nicht sein wollten. Und das, was sie sein wollten, erlaubten ihnen die gesellschaftlichen und persönlichen Umstände nicht, bis dann die Jugend nach 1968 unter den Parolen "Freiheit!" und "Selbstentfaltung!" die Fesseln abwarf.

 

Max Frisch hat wie kein anderer unsere Mentalität durchschaut und erkannt: Was wir viele Jahre lang spürten, ahnten und dachten, hofften und fürchteten, ohne es ausdrücken zu können – er hat es formuliert und gezeigt. Er hat seine und unsere Welt gedichtet, ohne sie je zu politisieren, er hat seine und unsere Identität stets aufs Neue bewusstgemacht – uns und allen anderen. So konnten und können wir in seinem Werk, im Werk des europäischen Schriftstellers Max Frisch, finden, was wir alle in der Literatur suchen: unser Leiden. Oder auch uns selber. (Marcel Reich-Ranicki)

 

Begreiflich, dass die Orte, an denen der Roman spielt, auf die zeitgenössischen Leser eine magische Wirkung ausübten: Zürich! Paris! Madrid! New York! Pontresina! Mexiko! Davos! Texas! Bei dieser Kulisse kam man ins Träumen. Die meisten kannten sie nur aus dem Kino, nicht aus eigenem Erleben.

 

Doch heute ist die Zeit um siebzig Jahre weitergeschritten, und am Schicksal von "Stiller" bestätigt sich die Feststellung Nicolás Gómez Dávilas: "Solange ein Buch nicht seine Aktualität eingebüsst hat, weiss niemand, ob es wichtig ist."

 

"Stiller" hat heute seine Aktualität eingebüsst. Die Dramati­sierung des Romans durch Theater Orchester Biel Solothurn wird damit zu einer Zeitreise in die historisch überwundene Mentalität der Réduit-Schweiz. "Uns selber", wie Marcel Reich-Ranicki ausführte, erkennen wir da nicht mehr; nur noch, falls die Erinnerung überhaupt so weit zurückreicht, unsere Grosseltern und Urgrosseltern. Dafür spüren wir (vielleicht heftiger als die damals Angepassten) die Beklemmung durch die Enge, die das Buch zu dokumentieren suchte.

 

Nicolás Gómez Dávila vermerkt zutreffend: "Nicht die Botschaft eines Buches, sondern sein Klima ist es, das uns dazu einlädt, in ihm zu hausen." Das Klima von "Stiller" ist erstickend. Darum entschied sich Regisseurin Deborah Epstein zusammen mit ihrem Partner, dem Bühnen-, Kostüm-, Video- und Musikgestalter Florian Barth, dem Grau der Geschichte berauschende szenische Effekte entgegenzusetzen. Das Konzept ergibt eine durchgehend mehrbödige, oft augenzwinkernd humorvolle Interpretation, die geprägt ist von Sensibilität und Intelligenz.

 

Der Stil der Wiedergabe reicht von der Burleske (die Verhaftung am Bahnhof, die Inspektion im Zeughaus) über das realistische Kammerspiel (die eheliche Auseinandersetzung im Büro des Staatsanwalts) bis zur Elegie (der Besuch im Sanatorium, die Schilderung des Stierkampfs). Mit diesem Bogen antwortet die Bühne auf die Multiperspektivität des Romans.

 

Das Personal trifft dabei stets den geforderten Ausdruck, so dass, zu recht, an verschiedenen Stellen Zwischenapplaus aufrauscht. Alle haben ihre grossen Nummern, und zwar, erfreulicherweise, mehr als eine, wodurch sich die fast dreistündige Aufführung zum durchgehenden schauspielerischen Fest ausgestaltet.

 

Haften bleibt die Szene, in der Günter Baumann in der Titelrolle die Philosophie des Stierkampfs ausführt. Er steht auf leerer Bühne. Die Schilderung wird gestützt durch fein abgestuftes Licht (Michael Nobs) und subtil eingezogene Klänge. Das Wort nimmt die Zuschauer hinein in die Szene, und gleichzeitig verwandelt sich der Erzähler durch unmerkliche Änderungen von Haltung und Ausdruck zum tödlich verwundeten Stier. Das Publikum erwacht am Ende der Szene so benommen, als ob es der Corrida leibhaftig beigewohnt hätte.

 

Atina Tabé, die am Anfang ihres Engagements für quirlige junge Frauen eingesetzt wurde, hat inzwischen die Kraft entwickelt, stille Charaktere zu zeigen, die ihr Eigenleben für sich behalten. Während sie jetzt auf dem Balkon im Sanatorium unter der Wolldecke liegt, beginnt es zu schneien. Der Mann redet auf sie ein, und sie tut derweil nichts anderes, als den Schnee mit den Lippen leicht wegzublasen. So still, so einsam wirkt die Szene. Grosses Theater.

 

Stefano Wenk, der Kabinettschauspieler aus dem früheren Berner Ensemble, zeigt in Solothurn, was Unübertrefflichkeit bedeutet. Nach dem Burgtheater mit Fritz Muliar und dem Theater in der Josefstadt mit Siegfried Walther erlaubt jetzt das Schauspiel von Biel-Solothurn, einem Komiker zu begegnen, der schon in der Art des Auftretens die Szene zu gestalten weiss; hier, wie er als Gefängniswärter Knobel die Suppe bringt und die Requisiten handhabt, den Blecheimer, den Schöpflöffel. Und ja, so ist's: An der ununterbrochenen Kette stimmiger Details erkennt man den Meister.

 

Wechsel der Töne mit Diego Valsecchi, dem Staatsanwalt, dem betrogenen Ehemann, dem zum Tod verurteilten jungen Tuberkulosekranken. In allen drei Rollen zeigt er eine Noblesse, die ans Herz rührt. Seine Frau, gleichzeitig die Geliebte Stillers, wirkt betörend fragil. Antonia Scharl gibt sie mit intensivem Ausdruck und Körperspiel. Der Besuch in Stillers Atelier ist ein Höhepunkt für sich. Antonia Scharl wird allerdings in den Folgevorstellungen darauf achten, den Text weniger beiläufig und leise wegzusprechen. Eine simple Frage der Regulierung. (Sie kann's.)

 

Bilanz: Wäre "Stiller" von Max Frisch in der Dramatisierung von Theater Orchester Biel Solothurn ein Fussballspiel, liesse sich das Resultat zusammenfassen mit 3:0 für die Heimmann­schaft.

 

Beziehungspuff. 

Identitätsproblematik. 

Krise. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0