Traum, Wunder, Poesie. © Simon Gosselin.

 

 

Le Nid de cendres. Simon Falguières.

Schauspiel.

Simon Falguières, Le K im Théâtre des Amandiers, Nanterre.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Mai 2023.

 

> Es gibt von der Aufführung eine kurze und eine lange Version (die vollständige). Die kurze dauert dreieinhalb Stunden, die vollständige dreizehn. Nach der Premiere der kurzen erscheinen zum Applaus weder der Autor noch der Regisseur. "Das ist bei uns mal so, mal so", sagt der Saaldiener, ohne eine weitere Erklärung abgeben zu wollen. Das Rätsel löst sich durch den Programmzettel: Autor und Regisseur sind identisch. Und die beiden wiederum sind identisch mit vier Personen im Stück. So hat sich Simon Falguières, als er in Reih und Glied den Applaus entgegennahm, gleich in vielfacher Funktion verbeugt. Wunder des französi­schen Schauspiels. <

 

Das deutsche Schauspiel bringt zur Zeit auf zwei Arten Neues: 1. Es adaptiert Romane und Filme. 2. Es dekonstruiert die Klassiker und besetzt sie quer nach den Regeln der Genderumkehr. - In Frankreich entstehen derweil wirklich neue Stücke, die jenes breite, diverse Publikum erreichen, von dem man im deutschen Sprachraum träumt, indem man es den Theater­leitungen ins Pflichtenheft schreibt.

 

Das französische Schauspiel gewinnt die Herzen seiner Zuschauer durch Qualität. Und die Qualität entsteht dadurch, dass die Regisseure nicht von der Hochschule herkommen, sondern von der Bühne – also nicht von der Theorie, sondern von der Praxis. Sie lernen das Handwerk als Schauspieler. Wenn sie Regie führen, wissen sie, wie es ist, wenn man auf den Brettern steht, und sie wollen nicht sich gross herausbringen, sondern das Stück und die Kollegen. Gleichzeitig erzeugt das Theaterbad eine Fluidität, die kein Akademiker­kopf hervor­bringen kann.

 

Die erfindungsreichen und sprachmächtigen unter den regie­führenden Schauspielern entwickeln ihre Begabung weiter und beginnen, eigene Stücke zu schreiben, gleich wie ihre Vor­gänger Molière, Nestroy, Streuli und Stalder. Beispiele für diese Art von Theaterkunst boten in dieser Spielzeit das Théâtre national de la Colline mit "Mère" von Wajdi Mouawad, das Théâtre des Bouffes du Nord mit "Les couleurs de l'air" von Igor Medjisky und zuletzt, im Théâtre des Amandiers, "Le Nid de cendres" von Simon Falguières. Und immer spielte der Autor und Regisseur in der Truppe mit.

 

Die neueste Produktion verschmäht das Märchen nicht; drängt es auch nicht in die Kinderecke ab. Anouilh hat solche Wunder­werke vollbracht; Audiberti, Schéhadé, Ionesco ... und jetzt eben Falguières. Nicht erstaunlich, ist der Surrealismus in Frank­reich entstanden.

 

Märchen bedeuten Traum, Wunder, Poesie, und zwar durch eine besondere Form von Sprache und Handlungsführung. Die Sprache ist gleichzeitig schlicht, eindringlich und evokativ, und die Handlung führt in Bereiche, von denen unsere Schulweisheit nichts wissen will. "Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt." (Kafka: Eine kaiserliche Botschaft.)

 

Um "Le Nid de cendres" aufnehmen zu können, braucht es demzufolge die unverbildete Rezeptivität des Kindes und die Enttäuschung des Erwachsenen, dass die Dinge nur das sind, was sie sind.

 

Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager: "Die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken."

 

(Novalis: Heinrich von Ofterdingen.)

 

Wie es der Titel "Das Aschennest" andeutet, spricht das Stück von Zerstörung und Aufbau, Ende der Welt und Neubeginn - das heisst Metamorphose des Untergehenden durch Kunst und Poesie. Damit realisiert die Aufführung Novalis' Forderung:

 

Das echte Märchen muss zugleich prophetische Darstellung – ideali­sche Darstellung – absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.

 

Mit diesem Ansatz bietet "Le Nid de cendres" im Théâtre des Amandiers in der kurzen wie der langen Fassung ein grosses, tief nachwirkendes Erlebnis.

 

Bereiche, von denen ... 

... die Schulweisheit ... 

... nichts wissen will.

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