Das ist neu! © Joel Schweizer.

 

 

Revolutionstrilogie. Esteve Soler.

Schauspiel.

Daniel Kunze, Sophie Leypold. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. Mai 2023.

 

> An der Uni käme die "Revolutionstrilogie" nicht auf die Prüfungsliste: "Die Aufgabe ist zu schwer. Mittlere Kandidaten können sie nicht lösen. Und schon gar nicht unvorbereitet." Theater Orchester Biel Solothurn mutet indes seinem Publikum die Aufgabe zu, mit der "Revolutionstrilogie" etwas anfangen zu können. Und dank ihrer Bildung (Fasnacht in Solothurn, Carnaval in Biel) wissen die Leute, wie man mit Unsinn umgeht: Man lacht laut und tut, als habe man jede Pointe verstanden. So mogeln sich die Premierenzuschauer (also die Freunde und Angehörigen des Produktionsteams) durch. Leider ist Angeberei auch das Rezept der Aufführung. Aber an der Uni würde der alte Professor murmeln: "Sie müssen verstehen: Dafür kann ich Ihnen keinen guten Brief schreiben. Kommen Sie in einem Jahr wieder!" <

 

Im Februar 1978 gastierte das Theater für den Vorarlberg in Biel-Solothurn mit Nestroys "Umsonst" vom Jahr 1857. Regisseur der Posse war Bruno Felix. Aus einem Satz, der im dritten Akt fällt, machte er einen bezaubernden Running Gag. Mit ihm strich Arthur, ein blasierter Provinzschau­spieler, seinen Anspruch auf Geltung hervor. Immer, wenn jemand ein Thema anschnitt, das nicht ihn betraf (zum Beispiel die Krönung Charles' III.), holte er den Fingerring vor den Mund, hauchte auf den übertrieben grossen Stein, polierte ihn mit dem Ärmel und konstatierte: "Fad, öd, alles schon dagewesen."

 

Mit diesen Worten ist nun auch die Reaktion des blasierten Provinz­kritikers auf die deutschsprachige Erstaufführung von Esteve Solers "Revolutionstrilogie" in Biel und Solothurn umschrieben. Wenn Schauspielstudent David Rothe vor Beginn der Aufführung mit übertrieben grossen Gebärden und übertrieben steifen Beinen einen Besen über den Bühnenboden führt und so tut, als gäbe es etwas sauberzumachen, dann zuckt der Kritiker schon zusammen. Und wenn sich daraufhin die vier weiteren Mitspieler im Kreis zum Singen aufstellen und Rothe mit der rechten Hand den Takt markiert, stöhnt der Provinzjournalist: "Fad, öd, alles schon dagewesen."

 

Den Anfang, den Regisseur David Kunze gewählt hat, brachte Christoph Marthaler 1988 ans Theater Basel und von dort aus in die Welt. Seine Art von Einstieg galt damals als unerhört progressiv. Seither sind 35 Jahre verflossen. Sie entsprechen David Kunzes Lebenszeit (Geburtsjahr 1988). Das bedeutet: Wischen und Singen auf der Bühne ist schon dagewesen. Auch am Jurasüdfuss. Und für die alten Zuschauer bedeutet die Auffüh­rung einen nostalgischen Schritt zurück:

 

Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar

an Mut wie an Hoffnung reich ...

 

(Albert Lortzing: Der Waffenschmied)

 

Die junge Frau in Szene 1 ("Die emanzipierte Braut"), die dem Partner die Sexpraktiken vorwirft (sie muss sich seinen Schwanz in Mund und Arsch stecken lassen), kam vor drei Wochen schon in Bern auf die Bühne (bei "Grand Horizons"), aber theatergeschichtlich geht die Auseinandersetzung bis ins Jahr 1879 zurück, wo Nora zum Skandal der Zeitgenossen dem Gatten erklärte (noch ohne die Worte "Schwanz" und "Arsch" in den Mund zu nehmen): "Ich war deine kleine Lerche, deine Puppe ... So, da hast du deinen Ring zurück." (Ibsen: Ein Puppenheim.) Schauspielstudentin Sophie Scherriebele interpretiert den Part. Leider noch mit ungenügender Sprechtechnik.

 

Untadelig dafür, einmal mehr, Günter Baumann. 2007 wurde er mit Beginn der Ära Rupp am Jurasüdfuss festes Ensemblemit­glied. Seitdem steht er in grossen und kleinen Rollen ununterbrochen auf der Bühne, kontrolliert, präzise, stimmig. Und das Wunder ist: Er hat sich nicht abgenützt. Bei jeder Aufgabe ist er neu da und überzeugt. So auch in den vielen Szenen der "Revolutions­trilogie". Längst müsste ihm die Ambassadorenstadt ihren Kulturpreis zusprechen. Die Mitglieder des Schauspiel­studios TOBS jedenfalls können ihn als Vorbild für Professionalität nehmen. Wen immer Günter Baumann spielt, er ist nie fad.

 

In der 6. Szene führt Gabriel Noah Maurer als Makler Atina Tabé als Bewerberin in eine Wohnung, wo der Leichnam eines ihrer Verflossenen an der Decke hängt und sie anspricht: "Arbeitest du immer noch bei der Bank?", worauf sie entschei­det: "Ich nehme die Wohnung!" Der Kenner begegnet hier jener Art von Szenen, die Wolfgang Deichsel 1972 (also sechs Jahre vor Geburt des Autors Esteve Soler) im Verlag von Klaus Wagenbach publiziert hat: "Frankenstein. Aus dem Leben der Angestellten." Analog zum "Erhängten" (so heisst die Nummer in Biel-Solothurn) heisst dort die Szene "Der Schrank":

 

Adler hat seinen Freund Theo Hoffmann in einem Kleider­schrank, der Adler gehört, tot aufgefunden.

 

Déjà-vu auch bei Szene Nummer 2. Da kommt, sagt das Programm­heft, "eine Frau mit ihrem Mann zum Arzt und beklagt, dass ihr Gatte verschwunden sei". Wolfgang Deichsel umschreibt eine vergleichbare Situation mit den Worten:

 

Bernd ist nicht mehr das, was er früher war. Seine Frau will wissen warum. Der Hausarzt soll helfen.

 

Bernds Frau: Man sieht ja nicht durch. Vielleicht hört er auf Sie, Herr Doktor, wenn er nicht auf mich hört.

 

(Der Arzt macht Notizen.)

 

Oder dann die Tiermasken in Nummer 5. Nach den "Vögeln" brachte sie Max Merker 2017 in seinem Marx-Brothers-Abend "Before I Speak I Have Something to Say" zu Theater Orchester Biel Solothurn.

 

Alles schon dagewesen. Bei der "Revolutionstrilogie" handelt es sich um jene Art kleiner Begegnungen, die man an den Schauspielschulen einübt: Nach zwei, drei Alltagssätzen biegt die Situation ins Absurde. Auch Joël Pommerat (er nennt sich "praticien du théâtre" oder "fabricant de pièces") entwickelt seine Stücke seit 1990 während der Proben gemeinsam mit den Schauspielern.

 

Wie immer bei derlei Materialansammlungen (der Kritiker der "Süddeutschen" verglich sie mit einer Pralinenschachtel, der Regisseur der "Revolutionstrilogie" mit einem Museum) stellt sich die Frage nach der Zahl, der Kombination und dem inneren Zusammenhang der Objekte. Deren Aneinanderreihung hat ja - im Unterschied zu den Stücken, die eine Handlung wiedergeben – keinen zwingenden Verlauf. In Biel–Solothurn greift David Kunze deshalb zum Mittel des Auspackens jener Bühnenbild­elemente (Bühne Sophie Leypold), die neu ins Spiel kommen. Dafür verwendet er weisse Plastikplanen. In Karlsruhe setzt derweil das Team Nils Strunk/Andrej Agranovski für seinen grandiosen "Mozart und Salieri"-Abend schwarze Tücher ein. Wie auch immer: Alles schon dagewesen.

 

Im April 2016 titelte die "nachtkritik", diese Art Szenen wirke "wie ein harmloser Woody Allen". Und sie fragte:

 

Ist jetzt bald Schluss mit den gepflegten Sicherheits­stücken, den Fingerübungen für die Regisseure und den dankbaren Eh-klar-Vehikeln für die Schauspieler?

 

Ach woher! Wieder kommen wir nicht weiter! Alles schon dagewesen, fad, öd.

 

Der Gehängte ...

... die Planen ... 

... die Tiermasken ... Alles schon dagewesen. 

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0