Ariodante. Georg Friedrich Haendel.
Oper.
Harry Bickett, Robert Carsen. Opéra national de Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Mai 2023.
> Die Verzweiflung ist am grössten. Stumm nähert sich die Prinzessin ihrem Vater, dem König. Verleumdet durch eine Palastintrige, hat sie das Leben verwirkt. Nun fleht sie gebrochen, mit Pausen durchsetzt: "Ich bitte um den Tod ohne deinen Fluch, denn ich sterbe unschuldig." Die Stimme der jungen Frau ist leise, fast gehaucht. Eine Sologeige begleitet ihre Worte. Da läuft ein fernes, dumpfes Grummeln durch das Haus. Wenn das Publikum in Bann geschlagen ist und nur noch lauscht, vernimmt es, wie unterm Palais Garnier die Metro vorbeifährt. Bei "Ariodante" stellt sich dieser Moment ein paarmal ein. <
Intensität durch Reduktion. Auf dem Weg zu den Höhepunkten nimmt Georg Friedrich Haendel immer so viel Material wie möglich weg: Menschen von der Bühne, Stimmen aus dem Orchester, bis am Schluss eine Leere erreicht ist, in der ein einzelner gezupfter Ton, ein einziges gesungenes Wort zum Sinnträger wird. Damit realisiert Haendel seine Höhepunkte als Innehalten. Das Jenseitige bricht in Zeit, Raum und Geschichte ein und wird erfahrbar als Luft, Leere, Stille.
In Paris übernimmt Robert Carsen das Verfahren, Intensität durch Reduktion zu gewinnen, für die Inszenierung. Das führt zu einem ungewöhnlich strengen, gemessenen, aber auch reinen Konzept. Der Ansatz wird durch das Werk gerechtfertigt. In ihm sind die handelnden Figuren Royals. Ihr Verhalten ist von der Etikette bestimmt. Hinter den rätselhaften Ornamenten an der Kleidung, hinter der Art, wie ein Glas in die Hand genommen wird oder die Füsse beim Gehen aufgesetzt werden, stehen Tradition, Selbstbeherrschung und Zucht. In den unendlich weiten Räumen, die durch Symmetrie und Leere erdrückend wirken, ist jede Person nicht nur ein Ich, sondern auch ein Repräsentant. Und wie Dürer seine Sujets durch eine schwarze Umrisslinie isoliert, grenzt die Präzision des Spiels die Personen von ihrer Umgebung ab.
Die Auffassung der Monarchie, welche die Royals zelebrieren, fasziniert die Menge der Menschen, die sich unbedeutend vorkommen. Sie wollen an dem, was in den höheren Sphären läuft, teilhaben, und sei es auch nur durch Vermittlung der Medien. Zu den Vermittlern gehört die Oper selber. Presse, Radio und Fernsehen sind weitere. Indem Robert Carsen das Geschehen auf der Bühne durch Paparazzi begleiten lässt, die anfänglich als brave Hofberichterstatter, später als Verfolger auftreten, erweisen sich die Royals als Grössen, an denen die Gesellschaft ihre Hoffnungen und Ängste abarbeitet. So wird "Ariodante" an der Pariser Oper zum Spiegel für die die Auseinandersetzung mit der "Macronie" in Frankreich, und das barocke Werk zeigt die Grundbedingungen der hierarchischen Ordnung an sich.
Robert Carsen verwirklicht diesen Gedanken, indem er die Oper auf einen gebrochenen Boden stellt. Die königlichen Personen wissen, dass sie für andere spielen: Diener, Zuschauer, Volk. Darum benehmen sie sich nur dann natürlich, wenn sie sich unbeobachtet glauben. In "Ariodante" sind das die Momente des Ausgestossenseins und der Verzweiflung. Hier tritt die Stille ein. Hier kommt der Lauf der Geschehnisse zum Erlahmen. Der ästhetische Höhepunkt liegt mithin im Leid. Das arbeiten der Komponist und sein Regisseur eindringlich heraus.
Die Eindringlichkeit der Momente entsteht durch die Selbstverständlichkeit, mit der die Beteiligten ihren Part realisieren. Weil sie der Aufgabe gewachsen sind, hat die Darstellung keine Spur von Krampf. Dafür haben die Künstler sängerische Reserven, die sie an der richtigen Stelle ins Spiel zu führen wissen, so dass sich die musikalischen Höhepunkte stets beglückend, weil anstrengungslos, einstellen.
Die Mitwirkenden gestalten ihre Arien als Redefluss. Damit fügen sie die Musik organisch in die Handlung, und der Gesang wirkt nicht (um eine etwas gewaltsame Metapher zu verwenden) als ingenieurmässig angelegtes Kanalwerk, sondern als frei fliessendes, natürliches Gewässer. Der Wechsel der Tonhöhen, Intensitäten, Lautstärken und Tempi wirkt so unangestrengt, als würden sich die Sänger in ihrer Muttersprache ausdrücken.
Dieselbe Selbstverständlichkeit findet sich beim Klangkörper, dem English Concert, geleitet von Harry Bickett. Alle sind getragen vom gleichen Puls. Damit verschmilzt die vierstündige Oper zu einer Wirklichkeit, in der das Publikum einem überhöhten und doch vertrauten Thema begegnet: dem Wechselspiel von Macht und Unfreiheit. Die kunstvolle Darstellung dieser Dialektik macht "Ariodante" bedeutend.
Das Leben der Royals ...
... zwischen Hype ...
... und Verzweiflung.