Im Fadenkreuz der Psychiatrie. © Janosch Abel.

 

 

Next to normal. Tom Kitt.

Musical.

Hans Christoph Bünger, Gil Mehmert. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. April 2023.

 

> Indem die Bühnen Bern mit "Next to normal" ein Musical auf den Spielplan setzen, können sie neue Publikumsschichten anlocken: Leute, die keine Ansprüche stellen an die Tonqualität. Für sie genügt es, dass geboostete Stimmen das Trommelfell zudröhnen. Der Text braucht nicht verständlich zu sein. Was die Musik betrifft, ist Mozart zu langweilig. Lehár passé. Am meisten werden Stimmen geliebt, die rhythmisch auf derselben Höhe vor sich hinsprechen wie zu alter Zeit in der Messe. Dort verstand man den Text auch nicht. Wenn dazu noch die Handlung ausgedehnt wird zur blossen Darstellung einer Stimmungs­lage, dann steht am Ende die Musical-Gemeinde auf wie ein Mann und bekundet: "Geil! Wenn ihr mehr solche Kost bringt, kommen wir gerne wieder!" Die Bühnen Bern aber können sich merken: "Wozu noch Haute Cuisine? Pommes mit Ketchup genügt." <

 

Am Schluss der Spielzeit wird sich zeigen, ob die Rechnung der Bühnen Bern aufgeht. "Next to normal" ist ein amerikanisches Erfolgsmusical, das es 2010 an den Broadway schaffte. Unterwegs heimste es drei Tony Awards ein, und dazu auch noch den Pulitzer Prize for Drama. Zu den Aufführungszahlen raunt Wikipedia andeutungsvoll: "Bis Ende Januar 2011 wurde das Musical über 733-mal gespielt." Die englische Version rubriziert nüchtern: "The Broadway production closed on January 16, 2011, after 20 previews and 734 regular performances."

 

Musicals haben eine glühend treue Gemeinde. Sie reist den Titeln über die Grenze nach. Sie füllt in den Sommermonaten, wo die traditionellen Kultureinrichtungen schlafen, die Publikumsrampen von Freiluftarenen und Seebühnen bis zum letzten Platz und zahlt dafür happige Preise. Warum also nicht schon im Frühling einen Teil dieser Masse ins Stadttheater lenken? Dann wird niemand mehr den Bühnen Bern vorwerfen können, sie seien zu woke und zu elitär.

 

Wie beim Musical "Carmilla", der Produktion des letzten Herbsts (anspruchsvoll "Schauspieloper" genannt), steht bei "Next to normal" das Wundern und Gruseln im Zentrum. Diese Impulse werden ausgelöst durch die Erscheinung einer toten Gestalt, die anfangs nur das Opfer sieht (dann weitere). Die Angehörigen sind zuerst ahnungslos, dann hilflos. Ein überforderter Arzt als Karikatur der aufgeblähten Schulmedizin bringt zwischendurch eine komische Note ins schaurige Geschehen.

 

Bei "Carmilla" erscheint eine blendend schöne junge Frau (die seit zweihundert Jahren unverwest im Grab liegt und der nachts Vampirzähne aus dem Gebiss wachsen); und bei "Next to normal" wird das Opfer von einem berückend schönen jungen Mann heimgesucht. Er trägt den keuschen Namen Gabriel und erlag als Säugling mit acht Monaten einem Darmverschluss. Die Mutter aber, Ehefrau in der Midlifecrisis, sieht den Toten und spricht nachts mit ihm in der Küche. Das Publikum erkennt den Wahn erst, als die Mutter Fehlleistungen begeht und vor den Augen des Ehemanns die Pausenbrote für die lebende Tochter und den gestorbenen Sohn auf dem Boden zuzu­bereiten beginnt.

 

In schmelzendem Musical-Stil erzählt die erste Nummer, wie das Unglück an einem normalen Tag einsetzt (Just another day), dann führt der Verlauf zu Drama, Verzweiflung, Elegie und am Schluss, wieder mit den vier Mitgliedern der Familie, zur Beschwörung des inbrünstig erhofften Lichts am Ende des Tunnels (Light). Als Mann fürs Grobe führt Hans Christoph Bünger die Beteiligten, wie schon bei "Carmilla", mit zuverlässigem Handwerk durch eine Komposition, welche vor 15 Jahren den massentauglichen Sound der künstlichen Intelligenz prophetisch vorwegnahm.

 

Am 25. und 26. Oktober 2019 gastierte die Produktion der Waggonhalle Marburg im Stadttheater Langenthal und bildete damit die Schweizer Erstaufführung. Der Kritiker der "Stimme" hielt es bis zur Pause aus. Dann holte er Mantel und Hut. Die Garderobiere tröstete: "Sie verstehen halt nichts von Musical." Beim Warten auf den Zug bat er vom Perron aus mit einer Mail beim Regisseur Jens Daryousch Ravari um Verzeihung für seine Desertion, und der freundliche Mann trug sie ihm bis heute nicht nach.

 

Mittlerweile ist beim Allergiker eine leichte Besserung einge­treten. In Bern blieb er gestern bis zum Schluss. Das erspart ihm heute, sich bei Regisseur Gil Mehmert entschuldigen zu müssen. Aber im Grund seines Herzens kann er sich immer noch nicht erklären, wie jemand das Musical auszuhalten vermag. Frage an die Kenner: Gibt es dafür eine Therapie?

 

Tanz von Mutter und Sohn. 

Der Tote trennt das Paar. 

 
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