Annie. Charles Strouse.
Musical.
Staatstheater Braunschweig.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Mai 2023.
> Die umjubeltste Aufführung der Spielzeit. Die Plätze sind, wie immer bei Premieren, gefüllt mit Angehörigen und Kollegen der Mitwirkenden. Nach jeder Nummer rockt das Haus. In der dritten Reihe sitzt ein früherer Kultusminister Niedersachsens, offenbar Freund und Förderer des Projekts. Er wird von der Bühne aus durch die Intendantin des Braunschweiger Staatstheaters Dagmar Schlingmann eigens begrüsst. Nach 1 Stunde und 20 Minuten steht das Publikum geschlossen zum Beifall auf. Die Angehörigen und Kollegen sind hin. Das Zielgruppentheater hat sein Ziel erreicht. <
"Annie" läuft unter dem Label "JUNGES! Musiktheater". Die Vorlage bildet das gleichnamige Broadway-Musical aus dem Jahr 1977. Die Vorlage dazu lieferte der Comic Strip "Little Orphan Annie", 1924 begründet durch Harold Gray und bis 2010 weitergeführt durch die Tribune Media Services. Die Vorlage zum Comic gab das Gedicht "Little Orphant Annie" von James Whitcomb Riley aus dem Jahr 1885.
Die Verwirklichung des amerikanischen Mythos auf der Bühne des Staatstheaters wurde, wie der Programmzettel sagt, "möglich durch die Unterstützung des 'Belcanto' Kinder- und Jugendchors Braunschweig im Männergesangverein von 1846 e.V. der Städtischen Musikschule Braunschweig, der 'Franzschen Vielharmonie' unter dem Dach der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld und der Braunschweiger Musikgesellschaft sowie des Staatsorchesters Braunschweig".
Innert fünf Tagen wird das Musical fünfmal gegeben. Alle Kinderrollen sind doppelt besetzt. Das ergibt 50 jugendliche Akteure auf der Bühne und 39 jugendliche Instrumentalisten auf der Orchestertribüne. Ihre Leistung besteht darin, Vorgegebenes wie vorgeschrieben umzusetzen. Damit realisieren die Kinder die Kompetenzen Folgsamkeit, Zuverlässigkeit, Durchhaltestärke, Koordination von Sprache, Gesang und Bewegung sowie Einordnung in ein grösseres Ganzes.
Für den Aussenstehenden sind jene Momente wertvoll, wo sich die Rollenträger vergessen und ihren Part mit seligem Lächeln realisieren. Für die Angehörigen sind alle Momente wertvoll. Und für die Kinder ist es wertvoll, etwas bedeuten zu können, anderen etwas vormachen zu dürfen, den Rausch von Verkleidung und Schminke zu geniessen und den Wechsel der Wirklichkeiten vor und hinter der Bühne zu erleben.
Und dann die Botschaft von "Annie" mit dem Segen des Kultusministeriums (heute geführt von einer Vertreterin von Bündnis 90 / Die Grünen): Es gibt immer eine Hoffnung! Ein elfjähriges Mädchen, das seine Eltern verloren hat, kann immer noch von einem Milliardär adoptiert werden, weil ihm das so gefällt, weil er sich einsam fühlt, einen Pet braucht und lieber ein Kind hat als einen Hund. Dann wird alles gut. Win-Win.
In der materialistischen, US-amerikanischen Version des Aschenputtelmärchens richten's nicht mehr die gute Fee und der liebe Gott. Denn die geheimnisvoll wirkenden, übernatürlichen Kräfte beruhen nicht länger auf Magie, sondern auf unermesslichem Reichtum, sprich: Kapital. Der Draht zum Allerhöchsten in Form des Gebets ist ersetzt durch die Telefonlinie ins Weisse Haus, und der Kapitalist braucht nur eine Einladung zum Abendessen auszusprechen, damit Präsident Roosevelt im Rollstuhl angefahren kommt und mit Hilfe des FBI für das kleine Mädchen alle Bedrohungen aus der Welt schafft. Die Moneten sichern das Happy-End.
In der Nacht zur Premiere von "Annie" in Braunschweig berichtete das unabhängige Internetportal Astra, nach dem russischen Angriff auf die ukrainische Stadt Uman mit mehr als zwanzig zivilen Todesopfern hätten Moskauer Bürger Blumen an einem Denkmal niedergelegt. Dabei seien Polizisten aufgetaucht, welche die Blumen später weggeräumt und die Trauernden aufgefordert hätten, "in die Ukraine abzuhauen".
"JUNGES! Musiktheater" und Wirklichkeit. Schwierige Sachen sind schwierig.
Das schwere Leben ...
... der Waisenkinder ...
... findet ein Happy-End.