Das "Veilchen" heute. © Kirsten Nijhof.

 

 

Das Veilchen vom Montmartre. Emmerich Kálmán.

Operette.

Tobias Engeli. Oper Leipzig.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Mai 2023.

 

> 1991 habe ich zum ersten und bisher einzigen Mal den Titel dieser Operette von Emmerich Kálmán vernommen. Ich traf in Wien den Direktor des Theaters beim Auersperg für ein journa­listisches Porträt. Der 63-jährige Regisseur Vilmos Désy er­zähl­te, "Das Veilchen vom Montmartre" habe seine Lebensbahn bestimmt. Mit acht Jahren habe er 1935 in Szegedin eine Aufführung der Operette gesehen und danach gewusst: "Ich will zum Theater!" Nun steht das Werk 32 Jahre nach jenem Gespräch im Café Eiles und 88 Jahre nach der Aufführung in Szegedin auf einem Spielplan. Ein Grund zu entscheiden: "Ich will nach Leipzig!" <

 

Am Ende lautet die Frage: "Hat sich die siebenstündige Reise gelohnt?" Und die Antwort ist: "Ja ... wenn man einmal da ist." Emmerich Kálmán hatte zwar beim "Veilchen vom Montmartre" seine geniale Zeit schon hinter sich. Aber das Handwerk beherrschte er immer noch meisterhaft: Wenn das Orchester einsetzt, packt ein erwartungsvoller Schauer die Zuhörerschaft. (Solche Anfänge finden sich auch in den Inszenierungen des Regisseurs Alexander von Pfeil.) Die Eröffnungstakte entsprechen, ins höchste Raffinement gesteigert, dem Trommelwirbel vor einer akrobatischen Zirkusnummer. Verständlich, dass der achtjährige Vilmos Désy hin war. Auch der bejahrte Kritiker wird ergriffen vom Sound und Gestus einer Epoche, die geprägt war von der Intelligenz des auserwählten Volks. Damals bildeten die Juden an der Universität Wien zehn Prozent der Studenten- und fünfzig Prozent der Professorenschaft.

 

Und erst beim "Veilchen von Montmartre"! Der Komponist, geboren als Imre Koppstein: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Die Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald: Juden. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Kapellmeister Josef Holzer: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Regisseur Paul Guttmann: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Kritiker für die Wiener Zeitung "Der Tag", Fred Heller: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration.

 

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kann die Musikalische Komödie (so heisst das traditionsreiche Haus fürs Leichte an der Leipziger Oper) Personal dieser Art nicht mehr aufbieten. Den Beteiligten fehlt, kulturbedingt, die Mischung von jüdischer Chutzpe und Wiener Schmäh, die "Das Veilchen vom Montmartre" seinerzeit zum Blühen brachte. Dazu Georg Christoph Lichtenberg:

 

Um eine fremde Sprache recht gut sprechen zu lernen und wirklich in Gesellschaft zu sprechen mit dem eigentlichen Akzent des Volks, muss man nicht allein Gedächtnis und Ohr haben, sondern auch in gewissem Grad ein kleiner Geck sein.

 

Ohne jene sanfte Angeberei mithin, die dem deutschen Bieder­sinn zuwiderläuft, bleibt das blaue Blümchen, allen honorablen Wiederbelebungsanstrengungen zum Trotz, dürr.

 

Wenn die Salzburger Nockerln, Friedrich Torberg zufolge (auch er Jude und Emigrant), "achthundert Jahre Habsburg" erfordern, um gelingen zu können, so ist mit dem Verschwinden des jüdischen Kulturelements die Frage beantwortet, welche die Dramaturgin Nele Winter im Leipziger Programmheft aufwirft:

 

Kálmán hat wunderbare Schlager geschrieben, die direkt ins Ohr und ins Herz gehen. Die Kritiken der Uraufführung waren durchweg positiv. Woran liegt es also, dass sich das "Veilchen" in den Jahrzehnten nach seiner Uraufführung nicht durchsetzen konnte und bis heute eher unbekannt ist?

 

Die Antwort: Weil die Nazis diese Art Kultur mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben. "Neun Zehntel alles literarischen Schmutzes, künstlerischen Kitsches und theatralischen Blödsinns gehen auf das Schuldkonto der Juden." (Adolf Hitler: Mein Kampf.)

 

Gleich wie die Wiener Architektur, in der die Väter des "Veil­chens vom Montmartre" lebten, aus geckenhafter Imitation aller Baustile besteht, haben Kálmán, Brammer und Grünwald für die Operette herbeizitiert, was anderswo Effekt gemacht hatte: Das mausarme, aber leichtlebig-unbeschwerte Künstlertrio aus dem Dachstock der "Bohème", die Glitzerwelt des Vaudeville aus der "Czárdásfürstin" und die Koloraturarie mit Flötenbegleitung aus "Lucia di Lammermoor". Ein Element jedoch fehlt im Pasticcio, um dem "Veilchen" dauerhaften Erfolg zu sichern: der echte, grosse melodische Einfall. Das bemerkte schon der scharfsichtige Kritiker Fred Heller:

 

Es klingt alles stimmungsvoll, zärtlich, mit raffinier­testem Komfort sogar einfach. Wenn man auch auf den echten, grossen melodischen Einfall vergebens wartet, horcht man doch immer wieder ein paar Takte lang gern auf, denn die Partitur ist mit überlegener Hand instrumentiert, Man­dolinen, Geigen und Harfen spinnen ein flirrendes Netz von Musik in die Geschehnisse. Manchmal wird es banal, manchmal aber täuschend echt sinnlich und sinnig.

 

Das Orchester der Musikalischen Komödie unter der Leitung von Tobias Engeli realisiert die Qualitäten mit beeindruckender Präzision, doch leider - wie es unserer Zeit entspricht - mit einer Unterdosis von Schmalz und Schmelz. Aber das Engagement aller Beteiligten, die sich der Aufgabe annehmen, als gälte es, von Leipzig aus mit dem "Veilchen" ein neues Kapitel der Musikgeschichte zu schreiben, ist vorbildlich.

 

Die Rollen sind durchwegs deckend besetzt. Und Mirjam Neururer, die Darstellerin des Veilchens, ist in Ausdruck und Spiel nicht nur anmutig, sondern beeindruckend. Für die ersten Vorstellungen indes musste sie wegen einer Bronchitis die Gesangspartien Christina Maria Fercher, einer Dresdener Ein­springerin, überlassen, die den unbekannten Part in wenigen Tagen nicht nur gelernt, sondern dergestalt gemeistert hatte, dass sich am Ende der Beifall für sie zur Ovation steigerte.

 

Alles in allem also: Respekt, Respekt. Aber die Auslöschung des jüdischen Kulturelements durch den Holocaust lässt sich bei allem guten Willen nicht wiedergutmachen. Das führt die honorable Wiedergabe des "Veilchens vom Montmartre" in Leipzig schmerzhaft vor Augen.

 

Alles wie gehabt ... 

... und doch ... 

... nicht ganz. 

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