Die Treppe: Hinauf ... hinunter? © Klara Beck.

 

 

L'Incoronazione di Poppea. Caudio Monteverdi.

Oper.

Raphaël Pichon, Evgeny Titov, Gideo Davey. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 17. April 2023.

 

> Die Welt ist sich einig. 1919 schrieb Hermann Kretzschmar: "Das Werk gehört zum Abgeklärtesten und Schönsten, was die Geschichte der Oper zu bieten hat." 1926 stellte Henry Prunières fest: "L'Incoronazione est le chef-d'œuvre du théâtre italien au XVIIe siècle." 1938 erklärte Percy A. Scholes: "Monteverdi's 'The Coronation of Poppea' is a masterpiece." 1963 führte Kurt Pahlen aus: " 'Die Krönung der Poppea' ist Monteverdis letztes Bühnenwerk. Es kam im Herbst des Jahres 1642 am Teatro San Giovanni e Paolo in Venedig zur ersten Aufführung. Jahrhundertelang galt es als Museumsstück, von den Kennern tief bewundert, aber ohne Möglichkeit eines Bühnenlebens. Das wurde in unserer Zeit anders." In der Tat: Seit der Monteverdi-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg eilt die "Poppea" in siegreichem Lauf von Krönung zu Krönung. Die jüngste Inszenierung, würdig in der Reihe der Meisterproduktionen, ist jetzt in Strassburg zu sehen. <

 

In der Strassburger Inszenierung von Evgeny Titov gibt das Bühnenbild von Gideo Davey zwei unterschiedliche Gegensätze wieder: Einmal den Gegensatz oben – unten, dann den Gegensatz draussen – drinnen. Damit sind die Achsen bezeichnet, auf denen sich die Handlung abspielt. Poppea will "hinein"kommen ins Zentrum der Macht, und sie will "hinauf"kommen auf den Thron. Was im Weg steht, muss beiseitegeschafft werden: die soziale Distanz, die Moral, das Eherecht, die Widersacher ... und am Ende die Helfershelfer (gleich wie Hitler nach seinem Einmarsch in Österreich alle umbringen liess, die sich noch an seine Jugendzeit in Wien erinnern konnten).

 

Amors Triumph, den der 75-jährige Claudio Monteverdi besingt, ist also im Grund zutiefst pessimistisch. Wohl fällt der Vorhang nach dem Höhepunkt: dem berückenden Duett Nero – Poppea. Doch die gebildeten Zuschauer an der Uraufführung kannten Suetons "Leben der Cäsaren". Und da steht:

 

Poppea, die Nero zwölf Jahre nach der Scheidung von Octavia (seiner ersten Frau) geheiratet hatte, liebte er heiss; dennoch tötete er auch sie, und zwar durch einen Fusstritt, da sie, schwanger und leidend darniederliegend, ihn mit Vorwürfen bedachte, als er etwas spät von einem Wagenrennen nach Hause kam. Von ihr hatte er eine Tochter Claudia Augusta, die er aber noch ganz klein verlor.

 

Besonderen Hass zog sich Nero durch die Verteuerung des Getreides zu, aus der er sogar noch Gewinn zog. Dazu wollte es der Zufall, dass während der allgemeinen Hungersnot die Ankunft eines Schiffes aus Alexandria gemeldet wurde, das Sand für die Hofringer brachte. So war er bei allen verhasst.

 

Er starb im zweiunddreissigsten Altersjahr. Die Freude des Volkes über sein Ende war so gross, dass alles mit Freiheitsmützen auf dem Kopf in der ganzen Stadt herumlief.

 

Dazu Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1617–1679):

 

WAs ist die Welt / und ihr berühmtes gläntzen?

Was ist die Welt und ihre gantze Pracht?

Ein schnöder Schein in kurtzgefasten Gräntzen /

Ein schneller Blitz bey schwartzgewölckter Nacht.

 

So bleibt am Ende nichts. Liebe und Macht sind vergänglich wie alles Irdische. Mit nüchterner Lakonie zeigt die Strassburger Drehbühne das Mahlwerk der Zeit.

 

Die schmucke Poppea schaffte es zwar aus dem Puff auf den Thron, aber der Weg war mit Toten gesäumt, und am Ende der Durst nicht gestillt. "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe", philosophierte Jacob Burckhardt. "Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und selbstverständlich unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen."

 

Diese Grundtatsache bringt Evgeny Titovs klare Inszenierung mit einem Minimum an Zeichen vors Auge. Der leere Raum ist mit Spannung erfüllt. Sie entspringt aus den Situationen, die der Librettist der Oper Giovanni Francesco Busenello, seines Zeichens Advokat, so wirksam heraufbeschwört, dass sich die Sukzession fortlaufend mit Gewicht auflädt. Die Spannung erwächst daneben aus der Glaubwürdigkeit des Spiels, in dem die Figuren ihre Befindlichkeit ausdrücken, und sie ist schliesslich das Werk jener Partitur, die zum ersten Mal in der Musikgeschichte Atmosphäre, Ausdruck und Kommentar ineinander verwob.

 

Das Ensemble Pygmalion unter seinem Gründer Raphaël Pichon spielt auf historischen Instrumenten und wechselt dabei unangestrengt zwischen solistischer Bravour und loyaler Begleitung. Die Sänger sind allesamt erstklassig. Giulia Semenzato singt und spielt die 31-jährige Poppea mit ihren nackten Beinen unter dem kurzen Röckchen so aufreizend, dass ihr Humbert Humbert, die Erzähl-Figur in Vladimirs Nabokovs "Lolita" verfallen wäre wie die Vorgänger, die er anführt:

 

Dante verliebte sich sinnlos in seine Beatrice, als sie neun war, ein sprühendes Mägdlein in einem karmesinroten Kittelchen, geschminkt und holdselig und juwelengeschmückt. Und als Petrarca sich wahnsinnig in seine Laura verknallte, war sie ein blondes Nymphchen von zwölf, das im Winde lief, im Blütenstaub, eine dahinfliegende Blume in der schönen Ebene, die man von den Hügeln der Vaucluse aus erblickt.

 

Die charakterliche Morbidität aller Personen in der letzten Oper des 75-jährigen Claudio Monteverdi findet sich ebenfalls beim Darsteller des Nero, Kangmin Justin Kim. Spielte er vor vier Jahren, als er am Berner Stadttheater in Haendels "Lotario" auftrat, einen Weichling, so gibt er jetzt, ebenso überzeugend, einen Härtling. Immer noch hat das damalige Urteil Gültigkeit: "Extraklasse. Mit der Biegsamkeit, Rundung und Wärme seines Gesangs stellt der Koreaner sämtliche hiesigen Countertenöre in den Schatten. Operndirektor Xavier Zuber hatte recht: 'Wenn ich Oper mache, dann so.' " In Strassburg sind jetzt alle "so". Zusammen bringen sie eine "Poppea"-Aufführung hervor, die nachhallt.

 

Im Weltenpuff ...

... zeigt sich ... 

... die Morbidität. 

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