Was wird aus dem Kind? © Nikolaus Ostermann.

 

 

Einsame Menschen. Gerhart Hauptmann.

Schauspiel.

Jan Friedrich, Kay Voges und Ensemble, Felix Rösch, Julian Paget. Volkstheater, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2023.

 

> Eine starke Aufführung. Sie bezieht ihre Kraft aus mehreren Faktoren: Gerhart Hauptmann kann eine Handlung aufbauen; Dialoge schreiben; Menschen schildern; Probleme hervortreten lassen. Und das Ensemble kann sprechen; Spannung herstellen durch Pausen; Gesten als präzise Zeichen einsetzen; keinen Ton und keine Gebärde danebengehen lassen. Damit bewegt sich die Aufführung den ganzen Abend im Zentrum des Stücks. Bemerkens­wert. <

 

Anfangs befinden sich die Darsteller bis zu den Knien im Nebel. Das wolkige Gebräu kann aus dem nahen Müggelsee zum Landhaus gekrochen sein. Dann ist seine Bedeutung realistisch. Es kann aber auch zeigen, dass die Personen abgehoben vom Boden auf Wolken schweben. Dann ist seine Bedeutung symbo­lisch. Auf diese Weise definieren schon die ersten Minuten den Stil der Aufführung: Gratwanderung. Nach links und rechts geht es hinunter in die Tiefe.

 

Die Schauspieler halten sich auf der schmalen Krete, sind aber zu kontrolliertem Vorschreiten genötigt. Eine falsche Bewe­gung, und sie stürzen ab. Die Gefahr füllt ihr Spiel mit Kraft. Für die Inszenierung zeichnen Jan Friedrich, Kay Voges und das Ensemble. Die Vereinigung der Sensibilitäten ergibt ein aussagestarkes, kondensiertes Spiel.

 

Hauptmanns Sätze, selber hochpräzis, umreissen den Dunst im Innern der Personen. Er kommt aus dem feuchten Milieu der Unentschiedenheit. Wohl könnte die trockene Konvention Halt bieten: Aber um den Preis der Lebendigkeit. "Du bist nicht mehr mein Sohn!", ruft der Vater am Ende des Stücks dem Nonkonformisten zu. Und da kommt wieder der Nebel. Er treibt ein junges Paar in einem traurigen Tanz auseinander. Damit ist Vergeblichkeit der letzte Eindruck, den die Aufführung hinter­lässt.

 

Die gleiche Präzision zeigt die Zusammenfassung auf dem Programmzettel. In wenigen Zeilen umreisst sie die Handlung und ihre Bedeutung:

 

Erst 27 Jahre alt ist Gerhart Hauptmann, als er 1890 sein Drama "Einsame Menschen" schreibt. In einer Zeit voller Umbrüche schildert er Individuen, die neue Formen der Gemeinschaft suchen und dabei doch nicht zueinander finden. Sie wollen einander nichts Böses und verletzen sich doch immer mehr, sie kämpfen um Zugehörigkeit und fühlen sich doch allein gestellt, sie wollen sich selbst entfalten und sind doch bloss auf verschiedene Arten verloren.

 

Gewaltsame Licht- (Julian Paget) und Toninterventionen (Felix Rösch) evozieren das Auseinanderbrechen von Menschen und Welt. Die Handlungen bilden wohl Zeichen, aber keinen Sinn. Durch Aussparen und Weglassen wächst das Elend in einem schwarzen, leeren Raum. Damit bewegt sich die Aufführung unablässig im Zentrum des Dramas. Bemerkenswert.

 

Zorn. 

Verzweiflung. 

Einsamkeit. 

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