Gleich fliegt der Laden in die Luft. © Joel Schweizer.

 

 

Liebe Jelena Sergejewna. Ljudmila Rasumowskaja.

Schauspiel.

Katharina Rupp, Karin Fritz. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. März 2023.

 

> Der Verlauf des Stücks ist eigentlich eine Stagnation. Nach zehn Minuten weiss man, worum es geht, und dann geht es noch mehr als eine gute Stunde weiter, ohne dass wesentlich Neues einträte. Gleichförmigkeit macht sich breit. Die Regie schildert die verfahrene Situation mit redlichem Handwerk, kann aber auch nicht hexen. Sie dient mit einem jungen, motivierten und recht begabten Ensemble einem Stück von mittelmässiger Qualität. Daher bleibt der Wunsch nach einem dichten, abwechslungsreichen Theaterabend offen, auch wenn an der Aufführung eigentlich nichts auszusetzen ist. <

 

Stephan Bundi heisst der Mann, der für Theater Orchester Biel Solothurn seit 2007 die besten Theaterplakate und Programm­heft-Titelbilder der Welt macht. Mit ihnen gewinnt er laufend Gold und Platinum beim Graphis Poster Annual, Gold bei Design Austria / Josef Binder Award und dem Swiss Poster Award, den 1st Prize beim Chicago Poster Annual und dem International Poster Biennial of Mexico, dazu Awards beim Toyama Inter­national Poster Triennal, dem Lahti International Poster Biennal und Taiwan International Poster Design Award u.v.a.m.

 

Fürs Schauspiel "Liebe Jelena Sergejewna" hat er jetzt einen Sicherheitsschlüssel genommen und ihn mit feinstem Pinsel in die Mitte einer schwarzen Fläche gemalt. Das Schwarz bezieht sich aufs Klima des Stücks. Das Licht kommt von links und gibt dem flachen Gegenstand Relief. Im Rund oben, wo man ihn anfasst, ist er blau. Blau = kühl. Doch zum Bart hin wird er gelb, und am Ende rot. Rot = heiss. So macht Stephan Bundi aus einem Alltagsgegenstand ein Dingsymbol. Wenn man die gezackte Linie des Barts ins Auge fasst, erkennt man im Negativ ein schwarzes Gesicht mit hochgeschobener Kappe und frech aufgerissenem Mund. "Kippfigur" heisst die Darstellungsweise seit Wittgenstein: Eine Abbildung – zwei Bedeutungen. Je nach Blickwinkel sieht man die eine oder die andere.

 

Der Doppelsinn, den der Meister der Grafik dem Plakat zu Ljudmila Rasumowskajas Schauspiel angedeihen liess, fehlt jedoch schmerzlich bei Stück und Aufführung. Da ist die Sache einfach. Es geht bloss um den Schlüssel. Deshalb kann die Dramaturgin Svea Haugwitz den Inhalt in drei Sätze zusammen­fassen:

 

Das Stück erzählt, wie sich vier Jugendliche unter einem Vorwand Zutritt zur Wohnung ihrer Lehrerin verschaffen, um von dieser die Herausgabe des Tresor-Schlüssels zu erzwingen. Im Safe liegen die Mathematikarbeiten, welche die Teenager am Vormittag geschrieben haben und nun gegen tadellose Exemplare austauschen wollen, um ihre Abschlussnoten zu verbessern. Als die Lehrerin sich weigert, den Schlüssel herauszugeben, greifen die Jugendlichen zu immer drastischeren Massnahmen.  

 

Damit steht der Abend dramaturgisch auf dünnen Beinen, ja streng betrachtet nur auf einem: "Gib den Schlüssel, sonst brauch' ich Gewalt!" Würde sich nun die Lehrerin den Schmeicheleien, den Bestechungsversuchen, den Mitleidsappellen oder den Drohungen öffnen, wäre das Stück nach zwanzig, dreissig oder vierzig Minuten aus. Aber da sie sich erst ergibt, nachdem die Schüler (und die Autorin) das ganze Arsenal des Schreckens abklaviert haben und alle (auch die Zuschauer) erschöpft sind, kann das Stück die ordentliche Ausführungsdauer von 90 Minuten erreichen.

 

Zusammengenommen bedeuten ein Gegenstand, ein Thema, ein Problem, ein Konflikt: Eindimensionalität. Und auf die Länge: Einförmigkeit. Hätte sich Ibsen des Themas Jugendgewalt angenommen, hätte er mehrere Stränge in die Handlung gezogen: Dialoge, die die Vergangenheit erhellen. Abstufungen in Stellung und Charakter des Personals. Binnenkonflikte hinter harmlos erscheinenden Dialogen. Auf diese Weise hätte der grosse Schauspieldichter die Oberfläche durchsichtig gemacht für ein Dahinter, in dem ein Problem von Gewicht auftaucht und nicht bloss die Frage, ob ein mässig begabter Schüler seine Prüfung wiederholen muss. Hätte anderseits Dürrenmatt (der Verfechter der "schlimmstmöglichen Wendung") das Stück geschrieben, hätte er die Sprache verknappt und achtzig Prozent der Redundanz weggekürzt.

 

Nun aber wird das Problem des Schlüssels nicht nur für die Kids, sondern auch für das Stück zum Problem. Manches ist da ungereimt: 1. Warum befinden sich die Prüfungsarbeiten in einem Tresor und nicht in einem Schrank? 2. Warum kann die Lehrerin den Schlüssel nach Hause nehmen? Gehört er nicht in einen Schlüsselkasten im Schulsekretariat? 3. Wenn nein: Benützen die anderen Lehrer einen anderen Tresor? Etwa jeder einen für sich? 4. Ist das realistisch? 5. Wie kommen die Schüler nachts überhaupt zum Tresor? Sind Schulhaus und Sekretariat nicht abgesperrt? Müssten sie von der Lehrerin nicht auch die Schlüssel zu Schulhaus und Sekretariat erpressen? 6. Wenn sie clever sind, warum kommen sie nicht auf den Gedanken, eine andere Strategie zu wählen? Statt zu sagen: "Gib den Schlüssel!" (wo es in Wirklichkeit heissen müsste: "Gib die Schlüssel!"), sollten sie es mit der Aufforderung versuchen: "Nimm unsere neuen, fehlerlosen Arbeiten und leg sie morgen an die Stelle der andern! Wir geben dir dafür dies und das!" Dann würde die Lehrerin von ihrem sturen Nein weggebracht in einen Prozess des Abwägens. Doch der Einwand bleibt: Wir können das Stück drehen, wie wir wollen – letztlich ist ihm nicht zu helfen. Flach bleibt flach, unlogisch unlogisch, unrealistisch unrealistisch.

 

Angesichts dieser Sachlage ist Katharina Rupp, die Regisseurin mit dem feinen Händchen, aufgeschmissen. Die meisten ihrer Erfolge ergeben sich dadurch, dass sie sich am Dürrenmatts Anweisung hält: "Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen." Wenn nun aber das Stück keinen Hintergrund hat? Dann wird der Theaterabend flach. Es werden zwar dauernd Strippen gezogen, doch die Sache kommt nicht in Fahrt – und vor allem: nirgends hin.

 

Der Kritik bleibt nichts übrig, als redliches Theaterhandwerk zu attestieren. Atina Tabé als Lehrerin hat ihren grössten, berührendsten Moment, wie das Chaos ausbricht, nackte Aggression ihre jüngferliche Wohnung zerstört (Bühnenbild Karin Fritz) und die hilflose Mathematikerin mitleiderregend, verletzlich und still am Tisch sitzt. Da kombiniert der Abend Wucht, Nachdenklichkeit und Trauer; erreicht mithin Mehrdimen­sionalität.

 

Die Qualität des Facettenreichtums verwirklicht Gabriel Noah Maurer. Er reagiert fein und lebendig auf die Situation und das Spiel der andern und bringt auf diese Weise die einzige glaubwürdige, volle Person auf die Bühne. Loyal versehen Sophie Scherriebele und David Rothe ihren Part. Als Studierende der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch absolvieren sie ihr Bühnenpraktikum im Schauspielstudio von Theater Orchester Biel Solothurn, gleich wie auch ihr Kommilitone Uriel Jung mit seinem vielen Text. Die Rolle des Intriganten kann er gleich morgen übernehmen. Für Jago ist er zwar noch zu jung. Aber Mephisto? Warum nicht? Oder, noch besser, der schleimige Sekretär Wurm in "Kabale und Liebe". So warten auf ihn noch viele interessante Stücke. "Liebe Jelena Sergejewna" aber ist keins.

 

Letzte Verhandlungen ... 

... dann Gewalt ... 

... und Zerstörung. 

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