Das Bernbuch. Meine weisse Stadt und ich. Vincent O. Carter.
Schauspiel.
Barbara Weber. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. Januar 2023.
> Mit der Uraufführung des "Bernbuchs" erfüllt das Berner Schauspiel vier von acht Aufgaben. 1. Es bietet Bern-Bezug. 2. Es ist woke. 3. Es ist divers. 4. Es betreibt Crossover. Bei den Aufgaben 5-8 fällt es durch. 5. Es ist nicht spannend. 6. Es enthält keine starken Rollen. 7. Es ist nicht gut gebaut. 8. Es sagt nichts Neues. - Wen die Erfüllung der Aufgaben 1-4 zufriedenstellt, jubelt am Ende der Vorstellung. Wer auch die Aufgaben 5-8 berücksichtigt sehen möchte, zieht ein langes Gesicht. Das Berner Schauspiel aber kann von sich sagen: "Nobody is perfect. I am Nobody." <
Als wir vor sieben Jahren nach der Uraufführung von Jürg Halters "Mondkreisläufer" in Vidmar 2 am Ausgang zusammenkamen, seufzte die Kritikerin der "Neuen Zürcher Zeitung": "Ich möchte so gern wieder einmal eine Geschichte sehen!" Inzwischen hat die NZZ die Berichterstattung aus Bern aufgegeben, und das Ensemble hat gewechselt. Aber Geschichten sind beim Berner Schauspiel immer noch selten. Stattdessen fährt die Sparte fort, Texte und Prosa auf die Bühne zu bringen, die nicht für die Gattung des Dramas geschrieben wurden. Nicht dumm. Fürs Umgiessen gibt es Tantiemen, die Premiere wird zur Uraufführung, und der Titel hat beim Lesepublikum schon einen Klang ("Malina", "Kraft", "Der Mann ohne Eigenschaften", "Von schlechten Eltern").
So verhält es sich auch mit dem "Bernbuch". Publiziert wurde es 1973 in New York auf Englisch und 2021 beim Zürcher Limmat-Verlag auf Deutsch. Die Schlagworte für den Katalog sind "Migration", "Bern", "1950-er Jahre". (Es fehlt das Schlagwort "Alltagsrassismus".) Auf 440 Seiten entwirft der afroamerikanische Schriftsteller Vincent O. Carter "ein Porträt seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seiner Stadt – das der heutigen überraschend ähnlich ist". Dazu zitiert der Verlag den Deutschlandfunk Kultur: "immer noch ein hochaktuelles Zeitdokument". Schön und recht.
Und jetzt: Umgiessen. Aus 440 Seiten mach 20. Aus einer Figur mach sechs. Der Gewinn fürs Theater: Jedes Ensemblemitglied darf ein bisschen Carter-Text aufsagen. Ein bisschen improvisieren. Ein bisschen das Publikum ansprechen: "Was meinsch du drzue?" Das Ich, das seine Erfahrungen im Bern der 1950er Jahre beschreibt, ist bei diesem Prozess mal Frau, mal Mann, mal weiss, mal schwarz, mal Schauspieler, mal Rapper; und Bettina Webers Inszenierung übermittelt damit die Botschaft: Jeder könnte der schwarze Carter sein. Und der schwarze Carter könnte jeder sein. Man sieht: Die Aufführung ist "hochaktuell".
Zur Zeit klettert auch im "Herz aus Glas" am Bayerischen Staatsschauspiel das Ensemble über eine zum Gerüst umgebaute Bühne und ruft dazu die Worte eines Filmdrehbuchs aus allen möglichen Positionen mal einzeln, mal chorisch aufs Publikum herunter, gleich wie am badischen Staatsschauspiel, wo beim "Leben des Galilei" die Sätze der einzelnen Figuren gerecht auf alle Spieler verteilt worden sind.
Der Preis: Niemand im Ensemble darf mehr einen Charakter aufbauen. Und niemand im Publikum darf sich mehr mit einem Charakter identifizieren. Anteilnahme am Menschen ist nicht mehr erwünscht. Nur noch Anteilnahme am Problem. Auf diese Weise verwirklicht das Sprechtheater die Tiktok-Dramaturgie: Alle paar Sekunden ein neuer Reiz. Es genügt zu glotzen. Das Thema ist ja bekannt; und was man davon zu halten hat, eingeübt und eingedrillt.
Die Mode ist weggekommen vom Mitdenken, vom Aufnehmen von Argumenten, vom kritischen Abwägen des auf der Bühne Behaupteten, vom Gewinnen neuer Erkenntnis, vom Überdenken der eigenen Haltung. Ach, die Mode!
"In den kultivierten Ländern gibt es keine Moden. Es ist eine Ehre, den Vorbildern zu gleichen." (Bertolt Brecht)
Jeder darf mal.
Mal einzeln.
Mal chorisch.