Migration aus der Müllhalde auf den Mond. © Stefan Brion.

 

 

Le Voyage dans la lune. Jacques Offenbach.

Operette.

Alexandra Cravero, Laurent Pelly, Barbara de Limburg. Opéra Comique, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. Februar 2023.

 

> Es ist, als ob das Team der Pariser Opéra Comique für die Produktion jener Offenbach-Operette, die von der Erde in den Mond führt, die Briefe von Richard Strauss gelesen hätte: "Liebe braucht ein solches Ding, Enthusiasmus, imprévu braucht eine Bühne, die bewusst ist, heute das Ausserordentliche zu leisten, nicht die entsetzliche Atmosphäre des Gewöhnlichen, die graue Routine, den Dirigenten mit kaltem Herzen, die Opernsänger, die es eben heruntersingen. Ums Leben muss es allen gehen, das Unmögliche muss möglich gemacht werden." Weil nun "das Unmögliche" geschieht, ist das Haus bis unters Dach gefüllt. Jeder Klappsitz ist verkauft; selbst die "Plätze mit eingeschränkter Sicht" im 3. und 4. Rang gingen weg wie warme Semmeln. Und warum? Wegen der Liebe einiger Theaterkünstler zu ihrem Werk. <

 

Als "Le Voyage dans la lune" im Pariser Théâtre de la Gaieté am 25. Oktober 1875 zur Uraufführung kam, war der Mondflug nicht eine Utopie, sondern ein Märchen. Betrachtet aus der Distanz von 150 Jahren, belegt es Novalis' Überlegung: "Das echte Märchen muss zugleich prophetische Darstellung – ideali­sche Darstellung – absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft."

 

Nun lesen sich die vier Akte der "Reise zum Mond" wie die "Bekenntnisse eines wahrhaften, synthetischen Kindes - eines idealischen Kindes". Novalis' Worte beschreiben die Haltung des Regisseurs: "Ein Kind ist weit klüger und weiser als ein Erwachsener – das Kind muss durchaus ironisches Kind sein."

 

Laurent Pelly realisiert den geforderten Stil durch eine ironisch-märchenhafte Bewegungsregie. Seine drei Jahrzehnte umfassende handwerkliche Erfahrung bringt jenes Zwischenreich auf die Bühne, von dem Novalis sagte: "In der künftigen Welt ist alles wie in der ehmaligen Welt – und doch alles ganz anders." Die durchchoreografierten Bewegungen des jungen, hochmotivierten Ensembles verwirklichen ein "durchaus ironi­sches Spiel". Beim Publikum ruft es Freude, Augenlust, Gelächter und Faszination hervor.

 

Mitgetragen wird das Konzept von den wendigen Instrumen­talisten, die sich unter dem Namen "Les Frivolités Pari­siennes" zusammengeschlossen haben, um der leichten Muse Frankreichs jenen Ernst zu schenken, der üblicherweise die E-Musik adelt. Dabei erweist sich Offenbachs Nähe zu Mozart nicht länger als Gerücht, sondern als Tatsache. Unter Alexandra Craveros engagierter Stabführung ist der Ton nobel, schlank und rhythmisch genau, und auf der Bühne wird der leichte Stil von Solisten und Choristen elegant nachvollzogen.

 

Zum Ereignis wird "Le Voyage dans la lune" aber dadurch, dass die Operette von Bildern getragen wird (Barbara de Limburg), die in der Tiefenschicht eine sehr ernste Geschichte erzählen. Die Erde, auf der das mitreissend ironische Spiel beginnt, ist zugemüllt mit Plastikbergen. Sie bilden fürs Auge eine farben­frohe pointillistische Szenerie, die der Kopf schön findet, sofern er aufs Denken verzichtet. Auf diese Weise ruft die erste Szene bereits die Widersprüchlichkeit unserer Epoche hervor: Schauen, ohne das Gesehene an sich herankommen zu lassen. "Das echte Märchen muss zugleich prophetische Darstellung – absolut notwendige Darstellung sein."

 

Die Migration auf den Mond (das Wort fällt in der Textadaption von Agathe Mélinand) gibt in diesem Kontext dem alten, fröhli­chen Werk unversehens Gegenwartsrelevanz. Im Kontrast zur geschun­denen Welt erscheint das Weiss des unberührten Tra­banten beglückend. Doch bei der Begegnung mit den Mondbewoh­nern erfahren die Emigranten auch, was im Weltall fehlt: die Bäume, die Blumen, die Früchte ... und die Liebe.

 

Wenn jetzt im Finale über einer Kraterwand die Erde aufsteigt, zu der es kein Zurück mehr gibt, und alle Wesen singen: "Erde! Erde! Ah! Wir grüssen dich, Erde! Mit deinem Licht erhellst du die Unermesslichkeit!", so zeigt die Szene nicht nur unseren entrückten Planeten am Firmament, sondern auch, dass wir im Begriff sind, ihn zu verlieren; wir erkennen neben dem Blau der Meere und dem Weiss der Wolken auch die Kontinente, auf denen Krieg und Hunger herrschen; wir blicken auf Russland, die Ukraine, den Nahen Osten, Nordkorea, den globalen Süden ... und tragischerweise beglaubigt sich dabei Novalis' zweihundertjährige Anschauung, wonach "das echte Märchen" durchaus "prophetische Darstellung" sei. So entlässt die leichte Muse am Ende die Zuschauer zugleich dankbar und nachdenklich in ihre Welt. Kann Kunst mehr leisten?

 

Die Erde.

Der Mond. 

Die Liebe.

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