Leben des Galilei. Bertolt Brecht.
Schauspiel.
Ronny Jakubaschk. Badisches Staatstheater Karlsruhe.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. Januar 2023.
> Für seine Inszenierung des Schauspiels "Leben des Galilei" greift Ronny Jakubaschk am badischen Staatstheater Karlsruhe auf historische Theaterformen zurück. Wie Bertolt Brecht überdeckt er den individuellen Ausdruck der Gesichter durch Masken und Schminke. Das Mittel stammt aus den Lehrstücken. Es sollte "Verfremdung" hervorrufen; also die Zuschauer dazu bringen, das Geschehen aus kritischer Distanz zu betrachten und nicht um die Hauptfigur zu bangen. Gleichzeitig zitiert die Karlsruher Aufführung durch Spiel, Kostüm und Perücke auch den Gestus der "Commedia dell'arte", die nicht Menschen vorführte, sondern Typen. In der Gesamtbilanz verschiebt die Verwendung dieser Kunstmittel das "Leben des Galilei" ins Minus. <
Als der himmlische Vater die Schöpfung vollendet hatte, blieb ihm als letztes Geschäft, die Seelen auf die verschiedenen Menschen zu verteilen, die sich auf der Erde herausbilden würden. Um das Werk vollkommen in Gang zu setzen, stattete er die grossen Seelen mit grossen Schicksalen aus und die kleinen Seelen mit kleinen. Nun war alles wohlgeordnet, und der Herr begab sich zur Ruhe.
Doch die Menschen waren nicht zufrieden. Sie murrten, die Verteilung der Güter sei ungerecht. Mit dem Kampfruf "Chancengleichheit!" bedrängten sie den Schöpfer, auch kleine Seelen mit grossen Geschäften zu betrauen, und grosse mit kleinen. "Macht, was ihr wollt!", antwortete der himmlische Vater. "Die Welt, die ihr nach der Vertreibung aus dem Paradies angefangen habt zu modeln, ist nicht mehr die meine. Ich habe mich aus ihr zurückgezogen." So kam es, dass heute die kleinen Menschen grosse Aufgaben versehen, während die grossen Menschen im Verborgenen leben.
Die Entwicklung, die sich auf der Welt vollzog, hat nun das Schauspiel des badischen Staatstheaters für die Besetzung von Bertolt Brechts "Leben des Galilei" übernommen. Es fragt nicht mehr, welcher Schauspieler sich von Aussehen, Alter und Können her am besten für welche Rolle schickt, sondern gibt allen das Recht, alles zu spielen, nach dem Stichwort, dass jede Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Talent und Eignung Diskriminierung bedeute und folglich ungerecht sei.
So dürfen nun Jannik Süselbeck, Claudia Hübschmann, Jens Koch und Gunnar Schmidt nacheinander ein bisschen Galilei spielen, daneben aber auch ein bisschen Frau Sarti, Galileis Haushälterin, den Dogen von Venedig, den Grossherzog von Florenz etc. pp., ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts und ihres Talents. Die Einheitlichkeit der klassenlosen und genderneutralen Gesellschaft auf der Bühne wird hergestellt durch Einheitlichkeit der Maske und Standardisierung des Spiels. Damit können keine individuellen Vorzüge mehr in Erscheinung treten. Alle sind gleich viel wert, was leider bezogen aufs Sprecherische nicht gilt. Alle dürfen aber gleich viel spielen. Wir sind am Ende der Unterscheidung von Haupt- und Nebenrollen. Hochgehalten wird die "Teamleistung".
Das Publikum ist mit dieser Ideologie vertraut. Im Arbeitsleben begegnet es ihr unter dem Stichwort "Abschaffung der Gärtchen!", und im Theater bei allen Inszenierungen, die nicht Stücke mit Rollen bringen, sondern Texte, Textflächen und Textadaptationen. Da ist der chorische, rhythmisch bewegte Auftritt von entindividualisierten Schauspielsoldaten längst ordonanzgemässe Normalität. Fürs Haus liegt der Gewinn darin, dass es keine teuren Charakterschauspieler mehr auf der Gagenliste zu führen braucht.
"Alles gut!", könnte man sagen. "Passt doch! Wozu der Lärm?" Die Appeaser übersehen indes, dass das gleichmacherische Theater dem Kern Galileis widerspricht (sowohl des Stücks wie des Menschen). Da geht es darum, sich der etablierten Lehre nicht zu beugen, sondern die Wahrheit zu suchen, der Pest zum Trotz.
Wahr ist, was die Sache verlangt, nicht die Konvention. Doch mit ihrer Inszenierungsweise vernebelt die Karlsruher Aufführung diese Tatsache aus Angepassheit, Phantasielosigkeit und vielleicht auch aus Mangel an Talent.
Entindividualisierte Figuren.