Konflikt hinter Schutzglas. © Yoshiko Kusano.

 

 

Ein Volksfeind. Henrik Ibsen.

Schauspiel.

Selen Kara, Lydia Merkel,. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Januar 2023.

 

> Henrik Ibsens "Volksfeind" ist ein scharfes Politstück mit einer aufsteigenden und einer absteigenden Linie. Die aufstei­gende gelingt fast überall; auch in Bern. Die abstei­gende aber versandet; auch in Bern. Den Anfang bildet ein Konflikt zwischen zwei Brüdern, Arzt und Politiker: Soll man um jeden Preis die Wahrheit sagen? Auch wenn sie sehr viel kostet, vom Volk nicht mitgetragen wird und der Wirt­schaft schadet? Es geht mithin um den Konflikt zwischen Wertepolitik und Realpolitik, wie zur Zeit allenthalben in Europa. Wenn ein Mann wie Ibsen das Problem formuliert, kann man davon ausgehen, dass es wehtut. Doch an diesem Punkt bildet sich das Problem der absteigenden Linie: So richtig weh tut die zweite Hälfte des "Volksfeinds" niemandem. Denn ohne genialen Dreh kommt das Schauspiel am Ende bloss ganz anstän­dig heraus; auch in Bern. <

 

In den Chemiezimmern unserer Schulhäuser findet sich an der Ecke des Demonstrationstischs ein geräumiges Gebilde aus Plexiglas, Kapelle genannt. In ihr werden die riskanten Experimente durchgeführt. Kleinere Explosionen und Stich­flammen gefährden hinter dem Schutzglas die Zuschauer nicht, und allenfalls entstehende giftige Dämpfe werden ins Freie abgeleitet. Solch eine Kapelle steht jetzt auch in der Mitte der Vidmar-Halle, die zur Arena angeordnet ist, und die Zuschauer blicken von allen vier Seiten auf die Reaktionen, die Henrik Ibsen, gelernter Apotheker, auf seinem Demon­strations­tisch namens Bühne in Gang setzt.

 

Zwei gegensätzliche Elemente stossen aufeinander, beide aus der Familie der Stockmanns. Das eine Element ist idealisti­scher Natur. Ibsen nennt es Thomas und zeigt es als Arzt und Menschheitsfreund. Das andere Element verkörpert den Pragmatismus. Es trägt den Namen Peter und fungiert in der Berner Fassung von Dmitrij Gawrisch als Stadtpräsident. (Im Original ist er "Stadtrichter und Polizeidirektor, Vorsit­zender der Badeverwaltung usw."; fürs Drama ist das einerlei.)

 

Den Grundkonflikt setzt Henrik Ibsen in ein Gemenge namens Gemeinde und demonstriert am Gesellschaftskörper, wie alle weiteren Elemente veranlasst werden zu reagieren, sobald der Prozess zwischen den Polen des Notwendigen und des Machbaren in Gang kommt. Dabei tritt der Charakter der verschiedenen Elemente in aller erwünschten Deutlichkeit ans Licht, also die Natur des Opportunisten, des Karrieristen, des Interessenver­tre­ters, des Heuchlers, des Egoisten, des Indifferenten und des Machtmenschen.

 

Die Konstruktion seines fünfaktigen Schauspiels verbirgt Ibsen hinter einer realistischen Staffage, wie sie der Entstehungs­zeit (1882) entspricht:

 

Erster Akt. Abends, im Wohnzimmer des Doktors. Der Raum ist bescheiden möbliert, aber sauber und wohnlich. Hinten die offene Tür zum Speisezimmer; man sieht den gedeckten Esstisch, auf dem eine Lampe brennt. Billing (ein Journalist) sitzt am Tisch, mit einer Serviette unter dem Kinn. Frau Stockmann steht am Tisch und reicht ihm eine Platte mit einem grossen Stück Rinderbraten.

 

Am Berner Schauspiel lässt Selen Kara die Verpackung für ihre Inszenierung weg. Das Bühnenbild von Lydia Merkel bringt kein Wohnzimmer, kein Redaktionsbüro ("Der Raum ist düster und unbehaglich, das Mobiliar alt, die Sessel schmutzig und abgeschabt."), keinen grossen altmodischen Saal in Kapitän Horstens Haus, sondern nur die Plexiglaskapelle, in der die Elemente miteinander interagieren. Und damit man begreift, dass die Schauspieler für Haltungen stehen und nicht für Menschen, betont die Kostümierung von Anna Maria Schories das Kostümhafte der Ausstattung.

 

Um die Klarheit der Demonstration zu steigern, streicht die Inszenierung die Nebenfiguren wie "Frau Stockmann (die Frau des Arztes), Eilif und Morten, ihre Söhne, 13 und 10 Jahre alt, Morten Kiil, Frau Stockmanns Pflegevater, Gerbermeister (und damit Auslöser des Unglücks), Schiffskapitän Horster sowie die Teilnehmer an einer Bürgerversammlung, Männer aller Stände, einige Frauen und ein Rudel Schuljungen".

 

So fällt denn an der Berner Aufführung auch die Auftrittsweise antirealistisch aus. Die unbeschäftigten Schauspieler sitzen auf reservierten Plätzen im Zuschauerraum (gehören also zu uns und wir zu ihnen), und bei Spielbeginn formieren sich alle Mitwirkenden zu einem Marthaler-Chor, damit wir verstehen: Das Ganze ist nur Theater, nicht Wirklichkeit. Es geht nicht um die Oberfläche des Einzelfalls, sondern um das allgemeine Muster im sozialen und politischen Getriebe.

 

Bei dieser Konzeption agieren die Spieler zurückgenommen, das heisst reduziert auf die Haltung, die sie verkörpern. Darin sind sie klar und deutlich (für Descartes das Kennzeichen der Wahrheit). Zum ersten Mal in der Ära des Schauspieldirektors Roger von Tobel sind alle auch klar und deutlich zu verstehen. Ein sprecherischer Fortschritt, vor dem sich der Kritiker verneigt.

 

Das Original des "Volksfeinds" endet mit einer beunruhigenden Ambivalenz. Doktor Stockmann hat seine Schlacht verloren, sieht sich aber als Sieger: "Psst! Ihr dürft noch nicht dar­über reden – aber ich habe eine grosse Entdeckung gemacht. Seht ihr, die Sache ist die: Der stärkste Mann auf dieser Welt steht für sich allein." Ambivalent ist diese Haltung nicht nur, weil sie uns an die Aluhutträger und Flat-Earth-Gläubigen erinnert, sondern weil sich hier der Idealist in Sozial­darwinismus und antidemo­kratischen Elitismus versteigt.

 

Ich bekämpfe die Irrlehre, dass der gemeine Haufe, die Menge, die Masse der eigentliche Kern des Volkes, ja das Volk selbst sei; dass diese unwissenden und ungehobelten Volksgenossen das gleiche Recht haben sollen zu billigen oder zu missbilligen, zu lenken und zu leiten wie der geistig vornehme Einzelne, die Persönlichkeit! Dasselbe gilt auch für alle anderen Lebewesen! Wie gross ist bei den Tieren der Unterschied zwischen einem kultivierten und einen primitiven Exemplar, etwa einem Bauernhuhn und einer hochgezüchteten Legehenne oder einem edlen Fasan! Auch bei den Menschen ist der Unterschied zwischen Rassehunden und Strassenkötern ganz enorm.

 

Diese Argumentationslinie hat die Berner Inszenierung, wie es unserer Zeit entspricht, diskret in den Hintergrund geschoben. Das verschafft ihr gleich zwei Vorteile: (1.) Wir können zur Aufführung ohne Skrupel applaudieren, und (2.) das Stück ist schon nach anderthalb Stunden aus. Entsprechend gross wird der Premierenapplaus. Beides – Aufweichung des Elitismus und Kürze der Aufführung – passt aber auch, wie Doktor Stockmann gesagt hätte, "zu dieser verdammten kompakten liberalen Majorität, die das Denken vergiftet und den Boden verpestet, auf dem wir leben." Hoppla.

 

Das Brüderpaar ... 

... in der Kapelle ... 

... der Demonstration. 

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