Katharinas In-Abgrund-Setzung. ©  Gabriela Neeb.

 

 

Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Fassung von John von Düffel nach Heinrich Böll.

Schauspiel.

Philipp Arnold, Viktor Reim, Romain Frequency. Münchner Volkstheater.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Januar 2023.

 

> Das Münchner Volkstheater ist voll besetzt. Gebannt verfolgen die Zuschauer, wie Katharina Blum so weit getrieben wird, dass sie einen tödlichen Schuss auf den Reporter der "Zeitung" abgibt, der sie bedrängte, zuerst mit seinen diffamierenden Artikeln, dann mit seiner zudringenden Begehrlichkeit. Der Untertitel von Heinrich Bölls Erzählung lautet denn auch: "Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann". Die Aufführung legt mit Subtilität die Stricke aus, in denen sich Katharina Blum verfängt. Das macht sie sehenswert. <

 

Wer heute zwischen vierzig und fünfzig ist und nicht gerade das Wiener Theater in der Josefstadt frequentiert, hat nie erlebt, dass Schauspiel mit geschlossenem Vorhang beginnt. Vorbei die Zeit, wo nach Verdunkelung des Zuschauerraums "der Lappen" hochging (Theatersprache) und mit dem Geschenk der Überraschung das Publikum bezauberte.

 

Beim alten Theater war der Blick nach "Vorhang auf!" heraus­gefordert, sich zurechtzufinden in einer Situation an einem Ort und zu einer Zeit, die nicht zum Hier und Jetzt des Zuschauers gehörten, sondern Bestandteil waren einer imagi­nären Welt.

 

Seitdem aber das Schauspiel mit offener Bühne beginnt, seuzft der Kritiker gemäss der 80:20-Regel beim Betreten des Zuschauer­­raums in achtzig Prozent der Fälle: "Ach nein! Nicht schon wieder!" Die offene Bühne entblösst nämlich nicht allein die Szenerie, sondern auch die Intelligenz des Regisseurs. Und in achtzig Prozent der Fälle wird dadurch die Erwartung von Qualität bereits vor Spielbeginn zerstört.

 

Die offene Bühne stellt nämlich die Regie vor die Frage: Was zeigen wir in den 15 Minuten, in denen das Publikum den Saal betritt? Und da kann nun der Kenner die mannigfachen Beispiele von Schablonenhaftigkeit, Schlamperei und Unsensibilität studieren, die ihm den Seufzer abringen: "Ach nein! Nicht schon wieder!" (Gleich wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts Hans Liebstöckl in Wien veranlasst wurde, eine Kritik mit dem Satz zu beginnen: "Schon wieder ein Zimmer.") Doch als braver Mitspieler rafft sich der Rezensent dann zusammen, um sich vom Tiefpunkt des Anfangs nicht entmutigen zu lassen und der Auf­füh­rung noch eine Chance zu geben.

 

Im Münchner Volkstheater nun gelingt es Regisseur Philipp Arnold, seine Könnerschaft an den Tag zu legen, noch bevor die eigentliche Handlung beginnt, indem er den Fluch, der auf der offenen Bühne liegt, gleich beim Hereinkommen des Publikums verscheucht. Sein Rezept liegt darin, dass er "Katharina Blum" von dem Moment an inszeniert, wo die Türen zum Saal geöffnet werden. Und hinter diesem Spielzug liegt das Geheimnis einer klugen, mehr­schich­tigen Konzeption.

 

So, wie es Philipp Arnold aufführen lässt, bewegt sich das ein­strängige, mithin eher simple Stück in der grössten denkbaren Bandbreite zwischen dem Gewusel einer Theaterfabrik und der perfekten Oberfläche des Films. Hinter den Dekora­tions­bestandteilen der offenen Bühne erspäht das Zuschauerauge beim Hereinkommen Beschäftigte aus den Sparten Maske, Garderobe, Technik und Spiel bei der Vorbereitung der Party, von der Katharina Blum den Terrorverdächtigen Ludwig Götten nach Hause bringen wird.

 

Doch beim Verdunkeln des Saals gerät die Szene (Viktor Reim) in Bewegung. Zwischenvorhänge gehen nieder und wieder auf, die Maskenball­figuren, deren Herstellung das Publikum beiwohnte, erscheinen jetzt auf der Leinwand im wirren Schwarz-Weiss eines Über­wachungs­monitors, und gleichzeitig bringt die Drehbühne das Interieur von Katharina Blums Zweizimmerwohnung mit Einbau­küche nach vorn.

 

Wenn der französische Cineast Henri Verneuil sagte, im Vorspann gehe es darum, das Publikum mit dem "plaisir du cinéma" einzufangen, so löst jetzt Philipp Arnold am Münchner Volkstheater diese Forderung ein, noch bevor das erste Wort gesprochen wurde. Durch subtile Überblendungstechnik schwört er das "plaisir du théâtre" mit dem "plaisir du cinéma" herauf.

 

Wie im Kino kommen die Stimmen der Schauspieler leicht verfremdet aus dem Lautsprecher, und wie im Theater erreichen die Geräusche das Ohr direkt: das Rascheln des Papiers beim Aufschlagen der "Zeitung", das Klacken der Absätze auf dem Boden, das Abstellen eines Glases auf der Spüle. Dazu evoziert Romain Frequency durch Sound filmische Spannung, und unter Zitierung der "Tatort"-Stillage wird die Beteiligung des Zuschauers auf die Spitze getrieben, um gleich wieder durch Ausstellung der Produktionsmittel die dialektische Balance zu finden.

 

Ihre Spitze erreicht die Aufführung in der Darstellung der beiden Hauptfiguren: Katharina Blum, verkörpert durch Ruth Bohsung, und Journalist Werner Tötges, verkörpert durch Julian Gutmann. Die Wiederholung des Verbs deutet an, dass die Figuren auf der Bühne des Volkstheaters einen Körper gefunden haben – ihren Körper. So geht die Handlung tief, und die Aufführung erhält die Qualität einer Begegnung.

 

Doch damit nicht genug. Durch kluge Herstellung von Mehrbödig­keit erreicht "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" gegen Ende den Rang von Theaterkunst. Als die junge Frau vom zweiten Verhör nach Hause kommt und gebrochen aufs Sofa niedersinkt, tritt sie gleich noch ein zweites Mal ein, diesmal verkörpert von Nina Steils.

 

Die beiden Frauen, die harte und die weiche, die zerstörte und die vitale, öffnen synchron "Die Zeitung". Das Geräusch tönt wie das Geknarrter des Medienfeuers, unter dem Katharinas Ehre begraben wurde. Über dem Interieur aber erscheint als Projek­tion in fetten Lettern der Schmutz, der "dem Blümchen" vom Boulevard angehängt wurde, und in diesem Moment erscheint Katharinas Gesicht als schwarz-weisses Pressefoto ein drittes Mal.

 

Auf diese Weise steigt hinter der einsträngigen, mithin eher simplen Geschichte Heinrich Bölls die Frage auf, wer denn eigentlich getroffen wird, wenn wir "die" sagen, und hinter den drei Katharinas erscheint die Tiefe von Arthur Rimbauds Satz: "Je est un autre" (Ich ist ein anderer). Für diese Technik verwendet die franzö­sische Literaturwissenschaft den Begriff "Mise en abyme". Und mit ihrer gescheiten In-Abgrund-Setzung ragt Peter Arnolds Inszenierung über die achtzig Prozent heraus, die sonst am Theater zu sehen sind.

 

Das Geräusch ...

... des Analogen ... 

... filmisch gespiegelt. 

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