Die engen Grenzen der Menschheit. © Birgit Hupfeld.

 

 

Der Turm. Hugo von Hofmannsthal.

Schauspiel.

Nora Schlocker. Bayerisches Staatsschauspiel, München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Januar 2023.

 

> "Der Turm" von Hugo von Hofmannsthal wird nie gespielt. Warum das so ist, tritt mit greifbarer Deutlichkeit aus der Aufführung hervor, die seit dem 21. Oktober 2022 im Münchner Residenztheater läuft. Zwar plädiert das Programmheft mit engagierten Worten für eine Rehabilitierung des soi-disant verkannten Stücks, unterschlägt aber nicht den Satz aus Erika Brechts "Erinnerungen an Hugo von Hofmannsthal" (Innsbruck 1946): "Die Uraufführung des 'Turm' fand im Februar 1928 statt und war leider nur ein 'Achtungserfolg'. Doch war der Abend irgendwie erhaben und weihevoll ..." Mit diesen Worten lässt sich auch die aktuelle Inszenierung umschreiben. <

 

So, wie der "Turm" im Residenztheater und im Programmheft daherkommt, ist er eher etwas fürs Seminar als für die Bühne. Die Programmheftbeiträge sind supergescheit und zeigen erhellende Zusammenhänge auf, und Nora Schlockers Spielfassung arbeitet mit starken lakonischen Zeichen. Auf diese Weise kommt die Aufführung mit 1 Stunde 40 Minuten aus; entwickelt aber keinen Sog.

 

Programmheft

 

Konstanze Kargl (Dramaturgin): "Der Turm" ist ein sehr personalintensives dramatisches Werk, das sich selten auf Spielplänen findet. In deiner Inszenierung wird der Abend von sechs Schauspieler*innen getragen. Wieso kommt es zu dieser personellen Engführung?

 

Nora Schlocker (Regisseurin): Zum einen haben wir uns in der Vorbereitung, beim Erstellen unserer Spielfassung, schon von einer Vielzahl von Figuren getrennt – diverse Woiwoden, Staroste, Mundschenke und Kämmerer hielten wir nicht für zwingend, um diese Geschichte zu erzählen. Also haben wir immer weiter verdichtet, das Stück filetiert, bis wir bei dem "rohen Diamanten" angelangt sind: Da haben wir Sigismund im Zentrum. Darumherum gibt es gar nicht mehr so viele Figuren.

 

Bei den sechs Schauspieler*innen geht es recht divers zu: Sigismund wird von Lisa Stiegler dargestellt, ergreifend und wunderbar wortdeutlich. Das gilt ebenfalls für die drei Figuren, die den 21-jährigen Prinzen umgeben: Der Vater, König Basilius (Michael Goldberg), Julian, der Gouverneur des Turms (Katja Jung) und Anton, dessen Diener (Johannes Nussbaum). Unerfreulich dagegen ist die Diktion von Thiemo Strutzenberger und Valentino della Mura. Da bildet das Bayerische Staats­schau­spiel eine echte Zweiklassengesellschaft ab: Oberschicht – Unterschicht. Verständliche Sprache – unverständliche Sprache. Inakzeptabel für ein Schauspielhaus, egal welchen Ranges.

 

Unverständlichkeit und Lakonie bringen den "Turm" bereits um einen Teil seiner Wirkung. Das zweite Handikap entsteht dadurch, dass das Geschehen ausserhalb des Turms durch Botenberichte übermittelt werden muss. Im wesentlichen liefern sie zerschnipselte News-Schlagzeilen und geben dem Ganzen jenen abstrakten Charakter, der sich wohl fürs Seminar eignet, nicht aber fürs Theater.

 

Die Lehre formuliert Balthasar Graciáns "Handorakel":

 

Viele scheinen gar gross, bis man sie persönlich kennen­lernt: Dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören, als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner über­schreitet die engen Grenzen der Menschheit: Alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde geben eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird: denn das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Ver­dien­ste zu rächen.

 

Alle haben ihr Gebrechen. 

Bald im Kopfe. 

Bald im Herzen. 

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