Auf viele Stimmen verteilter Text. © Sandra Then.

 

 

Herz aus Glas. Herbert Achternbusch.

Schauspiel nach dem gleichnamigen Drehbuch.

Elsa-Sophie Jach, Max Kühn, Marlene Lockemann. Bayerisches Staatsschauspiel, München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Januar 2023.

 

> 1976 hatte Werner Herzogs Film "Herz aus Glas" Premiere. Das Drehbuch stammte von Herbert Achternbusch. Die Dialoge hatten Laiendarsteller improvisiert, unter Hypnose, so Werner Herzog. Für seine kristallinen Bilder erhielt Kameramann Jörg Schmidt-Reitwein den Deutschen Filmpreis in der Höhe von 250'000 DM. 45 Jahre später, am 3. Juli 2021, inszenierte das Bayerische Staatsschauspiel mit einem Musiker und sieben Darstellern das Drehbuch von "Herz aus Glas" für die Bühne des Marstall­theaters, und die Frage ist: Was hat's gebracht? <

 

Wenn man vor fünfzig Jahren die Qualität eines Schauspielers rühmen wollte, sagte man: "Der kann sogar das Telefonbuch vorlesen – man hängt an seinen Lippen." Wie das gemeint war, lässt sich in Paris erfahren. Im Lucernaire sitzt Jean-Quentin Châtelain allein auf einem knarzenden Drehstuhl, trägt Samuel Becketts Erzählung "Premier amour" vor, und das Publikum hängt an seinen Lippen. Vor dem inneren Auge bauen sich Bilder auf: Bank am Flussufer. Eine Frau nähert sich und setzt sich zum Sprecher. Oder drüben, im Théâtre de l'Atelier: Fabrice Luchini liest seit zwei Jahren jeden Montag Abend Nietzsche vor. Das Haus ist voll, und das Publikum hängt an seinen Lippen.

 

Man könnte sich vorstellen, dass das Bayerische Staatsschau­spiel den Münchnern eine ähnliche Erfahrung hätte bieten können, wenn es den Mut gehabt hätte, für die Lesung des Drehbuchs von Herbert Achternbuschs "Herz aus Glas" bloss einen Schauspieler, einen Tisch und einen Stuhl auf die Bühne des Marstalls zu bringen. Dann hätten sich Bilder aufgetan, und den Zuhörer hätten Worte erreicht wie:

 

Im Vordergrund erkennen wir Hias; er sitzt schwer in sich versunken auf einem steinernen Treppenabsatz fast am Grunde der Schlucht. Wir sehen, er brütet seit Stunden.

 

Die Hände machen kleine Bewegungen, wie Gesten eines gedachten Gesprächs; sein Blick ist vollkommen entrückt und traumverloren. Über sein starkknochiges, grosses Bauerngesicht geht eine Verzückung hinweg.

 

"Was vor dem Untergang kommt, da schau ich Bilder davon. Vögel finden kein Land mehr, das Land ist versunken. Und wenn auch der Fels noch verschwunden ist, ist kein Platz mehr zum Sitzen, dann ist nur noch Wasser."

 

Diese Bilder aber genügten der Dramaturgie nicht. Sie engagierte eine Regisseurin (Elsa-Sophie Jach), beauftragte einen Musiker (Max Kühn) mit der Herstellung einer Tonspur, liess durch eine Bühnenbildnerin (Marlene Lockemann) ein braun angemaltes Haus mit rauchenden Kaminen auf die Bühne stellen - und jetzt trägt ein siebenköpfiges Ensemble mit durchchoreografierten Bewegungen und rhythmisiertem Sprechgesang Achternbuschs Drehbuch vor. Dazu klappt das Bühnenbild auseinander und wieder zusammen.

 

Wie im deutschen Sprachraum üblich, ruht die Produktion auf einem imponierenden Theoriesockel:

 

Im Zeichen des gegenwärtigen Informationskapitalismus werden Seins- und Weltverhältnisse aus der Perspektive ihrer Bewirtschaftung kodiert und dargestellt. Angesichts der damit verbundenen Fabeln und Fiktionen sind wiederum Perspektiven herausgefordert, welche die Geschichte kapitalistischer Wirtschaftsformen nicht nur am Leitfaden von Rationalisierungsprozessen, sondern auch mit dem Blick auf die Ressourcen und auf die produktiven Kräfte von Nichtwissen, Phantasmen oder Irrationalitäten erfassen.

 

Und:

 

Wenn der gesellschaftliche Körper von technolinguistischen Automatismen durchdrungen ist, verhält er sich wie ein Schwarm: ein kollektiver Organismus, dessen Verhalten ganz automatisch von konnektiven Schnittstellen aus gesteuert wird.

 

Durchdrungen von den "technolinguistischen Automatismen" verhält sich demzufolge die Uraufführung des Drehbuchs von Herbert Achternbusch theoriegemäss "wie ein Schwarm", und die Inszenierungsweise weicht in keinem Betracht ab von dem, was im deutschen Sprachraum "ganz automatisch von konnektiven Schnittstellen aus gesteuert wird", wenn Texte und Textflächen vorgetragen werden (etwa "Von schlechten Eltern" von Tom Kummer in Bern, "Gertrud" von Einar Schleef in Berlin oder die "Klimatrilogie" von Wolfgang Köck in Hannover). Immer geht es darum, durch Vervielfältigung der optischen und akustischen Reize die Sprache des Autors zu brechen, zu verfremden und mit dem Modus des Rap zu ästhetisieren.

 

Auf diese Weise dargeboten, stellt sich bei Herbert Achtern­buschs "Herz aus Glas" das Wie vor das Was, die Performance vor den Inhalt, und das Schauspiel übernimmt nolens volens die Ästhetik der Oper. Bei dieser Vorgangsweise können die Kunstmittel "über Gebühr benutzt oder durch hyperbolischen Gebrauch zur Manier werden" schrieb Walther Killy. Doch warum nicht? "Manierismus ist ein Kunstverhalten, nicht schlechter als andere und der Neigung jeder [szenischen Darstellung bzw.] Lyrik, die eine poetische Welt von eigenen Bedingungen herstellen will, durchaus entgegenkommend." (ders.)

 

Die Frage ist also nicht grundsätzlich, sondern fallweise zu beantworten: Was kostet's, was bringt's, wenn wir nicht einen einzelnen Schauspieler auf die Bühne stellen, der an einem Tischchen schlicht den Text vorträgt, sondern ein Ensemble rhythmisch zu Klängen durchs Dekor bewegen? Im Fall von Achternbusch lautet die Antwort: Die Aussage wird verwässert und stellenweise unverständlich, weil nicht alle Beteiligten gleich deutlich artikulieren (am problematischsten Pia Händler mit dem Text von Hias). Erschwerend kommt dazu, dass in München die Inszenierung oszilliert zwischen naiver Illustra­tion und textfremder Abstraktion. Die Unsicherheit beim Einsatz der szenischen Mittel irritiert aber den mitdenkenden Zuschauer und lenkt vom Gesagten ab. Damit beweist die Produktion unfreiwillig die Wahrheit des Satzes: Mehr ist weniger. Und weniger ist mehr.

 

Das üppig kostümierte Ensemble ... 

... wandert durch ein angemaltes Haus ... 

... das zuweilen aufgeklappt wird. 

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