Schlossatmosphäre, Kerzenlicht, Opfer, Vampir. © Iko Freese.

 

 

Carmilla oder das Zeitalter der Vampire. Jan Dvořák.

Schauspieloper.

Hans Christoph Bünger, Roger Vontobel, Fabian Wendling. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. November 2022.

 

> Vampirgrusical. Da wissen wir, was uns erwartet: Unheim­lich­keit, Kerzenlicht, Mondschein, ahnungslose Opfer, merkwürdige Blicke, nadelförmige Beisszähne, Blutspuren am Hals. All das Erwartete trifft in Bern auch ein. Das vermittelt uns grimmige Genugtuung: Die Welt des Bösen ist noch in Ordnung. Es geht mit der Schöpfung konsequent bachab. Wir sehen es kommen, und so, wie wir es kommen sahen, kommt es auch: bachab! Das gibt uns, paradoxerweise, Befriedigung. Anderseits ist der gerad­linige Verlauf nicht eben spannungs­fördernd. Das Bangen um die unschuldige, aber gefährdete Hauptfigur erkaltet mit der Zeit, und das Produktionsteam findet kein Scheit, um die Flamme bis zum Schluss zu nähren. So liegt auf dem Grill, trotz Blut und Grauen, eher leichte Kost. Auch für Veganer geeignet. <

 

Wie wir in der Premierenpause zusammenstossen, fragen der Pfarrer und die Ärztin gleich: "Bleibt ihr?" Sie würden gern aus der Aufführung schleichen und ein Glas Wein mit uns trinken: "Bis jetzt haben wir uns nur gelangweilt." Sie fanden die Handlung zu einfach, die Figuren zu klischiert, die Musik zu unerheblich: "Sondtrack, mehr nicht." Wir können das nicht bestreiten. Aber im Theater reagieren wir nicht wie Erwach­sene, sondern wie Kinder. Erschütterung treibt uns Tränen in die Augen. Komische Szenen bringen uns zum Lachen. Uns genügt die Frage: "Wie geht es weiter?", damit wir eine Handlung spannend finden. Diese Frage hält uns jetzt im Stadttheater. Wir möchten wissen, ob die Schauspieloper "Carmilla oder Das Zeitalter der Vampire" einen guten Ausgang hat und das liebe kleine Mädchen (Genet Zegay) mit seinem Verlobten (Linus Schütz) davonkommen lässt.

 

Nun aber kommt im zweiten Teil nichts Neues dazu. Die Produk­tion bedient weiter die Vampir-Folklore mit Schloss, Nacht, Kerzenlicht und Gruseltönen, findet aber keinen Dreh, um die Katastrophe im letzten Moment von den unschuldigen Häuptern abzuwenden, noch Brennstoff, um das Drama mit einem Feuerwerk zu beenden.

 

Aber das Zusammenwirken von Bühnenbild und Insze­nierung hat doch durch zwei Drittel der Aufführungszeit hin­durch­getragen. Wie schon bei "Rose Bernd" und "Maria Stuart" versteht es Regisseur Roger Vontobel, Spannung durch Verteilung der Körper im Raum hervorzurufen. Bei "Carmilla" belässt er die Figuren meist auf der Mittelbühne, von den Zuschauern leicht abgerückt. Das gibt ihnen, verbunden mit einer Haltung, die ins Statuarische geht, Ausstrahlung und Aura, auch wenn sie, vom Stück her, wenig zu sagen und vorzustellen haben.

 

Daneben setzt Roger Vontobel zusammen mit seinem Bühnenbildner Fabian Wendling effektvoll die Glanzlichter ein: Die Kerzenbeleuchtung im Eingangsbild; die dramatischen Auftritte von hinten; die Überblendung von Wirklichkeit und Traum, Nüchternheit und Wahnsinn durch das Spiel mit einer riesigen, weissen, kreisrunden Raumplastik, die gehoben und gesenkt, gekippt und angeleuchtet wird und alle weiteren Bildwechsel ersetzt. Sie trägt lange durch die Handlung und kommt nach der Pause räumlich und dramaturgisch zum Höhepunkt: Das kleine, weisskostümierte Vampir- (und Familien-)opfer sitzt am rechten Bühnenrand gebrochen an einem schwarzen Klavier, und im grossen, leeren, schwarzen Raum geschieht nichts anderes, als dass schwere Tropfen aus der in die Höhe gezogenen Raumplastik kreisförmig ins Wasser niederklatschen, das den ganzen Bühnenboden knöcheltief bedeckt, weil die Handlung in einem mittelalterlichen Wasserschloss spielt. Das Bild hat, wie man in Anlehnung an Alfred Kerr sagen möchte, Ewigkeitswert.

 

Ein weiteres Glanzlicht ist der Auftritt von Claudius Körber in der Charge des Wahnsinnigen. Im Gegensatz zur edlen Einfalt und stillen Grösse, mit der die anderen Figuren gezeichnet sind, bringt er virtuoses, genau abgestimmtes Sprach-, Heul-, Haltungs- und Bewegungsspiel, das den lastenden Ernst der Vampirbedrohung durch Momente feinster Komödiantik auflockert.

 

Und dann ist noch von einer Extraleistung zu reden: Für den erkrankten Jan Maak sprang einen Tag vor der Uraufführung Kilian Land ein. Mit dem Nachtzug kam er nach Bern, fasste das Manuskript und trat mit ihm, ohne Stück und Inszenierung zu kennen, zur Generalprobe auf die Bühne. Am nächsten Tag hielt er immer noch das Manuskript in der Hand, aber so beiläufig, wie man eine Zeitung mit sich herumträgt, und spielte den Dr. Spiegelberg, als sei ihm die Rolle auf den Leib geschrieben worden. Als weitere Extraleistung brachte er seine fabelhafte Diktion mit. Für sie hätte ihm die Burgergemeinde Bern schon vor einem Jahr einen Preis zusprechen müssen. Jetzt, liebe Kulturkommission, ist er überfällig. Also i d Hose!

 

Was die andern Rollenträger angeht, waren die Ärztin, die Apothekerin, der Pfarrer und der Kritiker froh, wie bei fremdsprachigen Opern auf den aufgeblendeten Text am Bühnenrand schielen zu können, denn vieles, was Genet Zegay als Opfer und Amelie Baier als Carmilla äusserten, war unverständlich, auch wenn alle Stimmen verstärkt wurden. Aber Microports verbessern, wie man weiss, nur die Lautstärke, nicht die Diktion. Den Akademikern kam das Bildungsprivileg zugute: Sie verstanden Englisch. Sonst hätte ihnen die Text­projektion nichts gebracht. Der Grund: Die Bühnen Bern unterliessen es zwar nicht, im Programmheft die Handlung in "einfacher Sprache" in gut lesbarer, 18 Punkt grosser Schrift wiederzugeben und damit den Zuschauern im Bedarfsfall einen "niederschwelligen Zugang" zum Werk anzubieten, dann aber wandten sie sich, was die Übertitelung angeht, ausschliesslich an die Elite. (À corriger!)

 

Und jetzt die Gretchenfrage: "Schauspieloper von Jan Dvořák", Auftragswerk der Bühnen Bern. Wie vor ihm Richard Wagner und Joachim Raff schrieb auch er als Komponist sein eigenes Libretto. Was soll man dazu sagen? Es war, wie die Musik, dirigiert von Hans Christoph Bünger, zweckdienlich für Familienvorstellungen mit Kindern ab zwölf Jahren. Bestimmt zum raschen Verzehr, gut verdaulich, im Kühlschrank zwei Tage haltbar; trotz Blut und Grauen auch für Veganer geeignet.

 

Die Glanzlichter ... 

... werden gesteigert ... 

... durch Komödiantik. 

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