Figuren wie Springteufel. © Candy Welz.

 

 

Der Meister und Margarita. Michail Bulgakow.

Schauspiel.

Luise Voigt, Natascha von Steiger, Frederik Werth, Tony De Maeyer. Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Gegenüber den Angaben im Programmheft hat die Aufführung 25 Minuten verloren. Abermals 15 Minuten weniger, und die Perle ist zugeschliffen. Jetzt hat "Der Meister und Margarita" am Deutschen Nationaltheater Weimar noch Längen (vor allem im zweiten Teil), die die Aufmerksamkeit dämpfen und die Gedanken abschweifen lassen; woran man sieht, dass es immer gut ist, sich an Ludwig Mies van der Rohes Kernsatz zu halten: "Weniger ist mehr." <

 

Weimar zieht. An diesem gewöhnlichen Wochentag im November sind alle Frühstückstische des Hotels besetzt mit Kultur­touristen im Seniorenalter, Typus Diakon, Studienrat und Zahnarzt. Die Einzelreisenden halten neben ihrem Müsli ein Buch in der Hand, oder sie schreiben in ein Heft. Handys sieht man nicht.

 

Anders der Weg zum Nationaltheater. In der Carl-August-Allee sind ganze Trauben sportlich ausschreitender Jungs und eingehenkt gehender, kichernder Mädels unterwegs. Sie kommen aus der Jugendherberge Germania und lassen sich von Google Maps führen. Wenn das ältere Volk im Theater eintrifft, hat die Jugend schon ihre angeschriebenen, logogeschmückten Jacken abgegeben und durchschweift nun, während im Foyer die Einfüh­rung läuft, in frischen, sauberen Hemden die Publikums­räume von unten bis oben.

 

Die Platzanweiserin weiss Bescheid: "Das sind Klassenfahrten. Für alle, die nach Weimar kommen, steht das Theater auf dem Programm, egal was gespielt wird. Heute haben sie Glück, es ist Schauspiel. Aber wenn Oper gegeben würde, wären sie ebenfalls hier. Die, die wir heute haben, sind Waldorfschüler. Sie kommen aus Schleswig-Holstein."

 

Für die Nordlichter wird der Abend im Weimarer Theater unvergesslich werden. Das Bühnenbild ist nämlich, wie die älteren Herrschaften im Parkett eindrücklich mitbekommen, als Tunnel oder Röhre ausgestaltet. Es ist nach oben zu geschlos­sen und vermittelt für die teureren Plätze das Gefühl, sie schauten vom Grund eines engen Hofs an vielen Stockwerken vorbei in den Himmel.

 

Damit etabliert Natascha von Steiger, in der Horizontalen freilich, den Gegensatz von unten und oben, Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit, durch den sich der Roman "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow strukturiert. Auf die Weimarer Bühne kommt er als Schauspiel in der Übersetzung von Thomas Reschke. Die vielen Fenster symbolisieren die unaus­­ge­setzte Kontrolle im sozialistischen Überwachungsstaat - ein weiteres Thema, das Michail Bulgakow umtrieb.

 

In diesem Dekor, das nur "aussen" zeigt und nicht "innen", ploppen die Figuren wie Springteufel aus Bodenklappen und Seitengassen, und ihre von Tony De Maeyer durchchoreogra­fierten Bewegungen verleihen der Aufführung einen schrägen Discoschmiss, der zu unausgesetztem Hinschauen zwingt. Akustisch wird die Szene unterfüttert mit jenen minima­listisch-repetitiven Soundelementen (Frederik Werth), die man von den News der Privatradios her kennt.

 

In den Sendern wurden sie eingeführt, nachdem sich gezeigt hatte, dass die Hörer weniger abschweiften, wenn sie auf einem rhythmischen Rollband durch die Sprachteile gezogen wurden. Dieses Rollband funktioniert nun auch in Weimar; das Publikum bleibt dran, das junge wie das alte, zumal der Text, durch Headsets auf Lautsprecher übertragen, dem Schauspiel eine Art Kinoakustik beimischt.

 

Das flotte Geschehen, von einem jungen, spielfreudigen, attrak­tiven, sehr beweglichen Ensemble vorgetanzt, vorgerobbt, vorgehüpft und vorgetragen, verliert an Fahrt, als es in den Monolog von Margaritas Hexenritt mündet. Das Element des Berichts fällt ab gegenüber dem Element des Dialogs, und die Inszenierung von Luise Voigt kann die von den Gattungen gesetzte Grenze zwischen Epos und Drama nicht verwischen.

 

Trotz dieser Erlahmung dreht das Publikum aus Schleswig-Holstein beim Applaus voll auf. Wenn es auch nicht genau angeben kann, was für einer Handlung es beigewohnt hat, so hat es sich doch amüsiert - im Theater. Mit der Stadt verhält es sich anders.

 

Raschen Schritts haben die sportlichen jungen Männer die Carl-August-Allee nach der Vorstellung durcheilt bis zum Bahnhof, und nun kommen sie den etwas gemächlicher nachziehenden Mädels entgegen: "Nichts los! Alles geschlossen!"

 

Derweil sitzen die Kulturtouristen im gedämpften Licht der Hotelbar. Einzelne haben ein Buch aufgeschlagen und nippen an einem stillen Wasser.

 

Blick von der Erde ... 

... in den Himmel ... 

...  mit Jenseitigen. 

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