David Afkham, Einspringer. © Markenfotografie.

 

 

Die Hebriden / Konzert für Violine und Orchester e-­Moll / Symphonie Nr. 3, "Schottische". Felix Mendelssohn Bartholdy.

Symphoniekonzert.

David Afkham. Sächsische Staatskapelle Dresden.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Als ich neben der Rezeption den Anmeldezettel ausfüllte, traf noch ein hochbetagtes Ehepaar ein. "Es war wunderschön!", rief der Mann dem Nachtportier entgegen. Seine Frau ergänzte: "Dschulia Fischer! Phänomenal!" Das Paar hatte in der Semperoper den gleichen Anlass besucht wie ich: Das Symphoniekonzert der sächsischen Staatskapelle zu Felix Mendelsohns 175. Todestag. Aber unser Eindruck ging diametral auseinander. Warum bloss hatte ich das Ereignis nicht zu würdigen verstanden wie die beiden Alten? Lydia Zwahlen, Putzfrau in Bümpliz, hätte bei dieser Frage einfach die Schulter gehoben: "Gib mir deine Ohren!" <

 

Acht Tage vor dem Konzert hatte Christian Thielemann das Dirigat "aufgrund langanhaltender Schulterbeschwerden" zurückgegeben. Als Einspringer war David Afkham gewonnen worden, der Chef des spanischen Nationalorchesters. Er brachte die Konzertouvertüre op. 26, "Die Hebriden", das Konzert für Violine und Orchester e-Moll mit Julia Fischer und die Symphonie Nr. 3, die "Schottische"; drei Klassiker des Repertoires, die jedermann mitsummen kann. Doch kaum hatte das Orchester zu spielen begonnen, stellte ich mit Erschrecken fest, dass ich einem partiellen Hörsturz erlegen war.

 

Einzelnes hörte ich deutlich: Die wundervolle Wärme der Streicher; den runden Klang der Blechbläser; die Innigkeit der Klarinette. Aber alles andere entging meinen Ohren: Also litt ich an mehr als partieller, eher schon totaler Taubheit. Ich hörte kein Zusammenwirken der Register. Ich merkte nicht, wie die Stimmen einander den Impuls übergaben und das musikalische Geschehen zum Verlauf steigerten. Ich erkannte nicht, dass die Komposition durch unterschiedlich beleuchtete Landschaften führte. Es kam mir vor, als würden lediglich Noten hinterein­ander­gehängt, nicht aber Wechselreden gestaltet. In dieser eingeschränkten Verfassung vernahmen meine Ohren natürlich auch nicht einen Gedanken des Dirigenten.

 

Goethe hat gesagt: "Alles, was uns imponieren soll, muss Charakter haben." Am 15. November aber, Tag meines partiellen Hörsturzes, verhinderten Tempo und Lautstärke der Exekution, dass ich Mendelsohns Charakter zu erkennen vermochte. Der rasche Gang führte – nur das hörte ich – zu mehreren verwackelten Stellen (leider auch in der Begleitung von Julia Fischer), und im Forte – für meine Ohren viel zu häufig – verschmolzen die Stimmen zu indistinktem Brei. Dabei deckten sie auch Julia Fischers leuchtende Solovioline zu; leider.

 

Am Ende klatschte das Publikum in der vollbesetzten Semperoper brav, aber nicht übermässig. Ein Herr mittleren Alters stand am Rand der vierten Reihe auf und wandte sich auffordernd gegen die anderen. Doch die blieben sitzen. Es war nicht zu entscheiden, ob aus Müdigkeit, Alter oder Mangel an Enthu­siasmus.

 

"Dschulia Fischer! Phänomenal!" 

Die wundervolle Wärme der Streicher. 

 
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