Beziehungsunfähigkeit und Schuld. © Christophe Raynaud de Lage.

 

 

Premier amour. Samuel Beckett.

Schauspiel.

Jean-Michel Meyer. Lucernaire, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Eine seltsame Theaterbegegnung. Es gibt zwar ein paar Scheinwerfer, aber sonst ist der Ort völlig schwarz. Auf einem Drehstuhl sitzt ein Mann mit Hut. Unvermittelt fängt er an zu reden. Eigenbrötler breiten gern ihre Sachen aus, ohne sich zu kümmern, wen das interessiert. Für sie bildet ihr kleines Ich das Zentrum: Was es denkt, was es empfindet, was ihm wider­fährt. Das Publikum aber wird rasch in das Gravitationsfeld des Zwergsystems eingesogen. Bald gibt es im Raum nichts Wichtigeres mehr als die "erste Liebe" (Premier amour) von Samuel Beckett. <

 

Der Spielort ist so weit vom Erdboden entfernt, dass er "Le Paradis" heisst. Um ihn zu erreichen, muss man im Pariser Theater Lucernaire zuerst eine steinerne Treppe nehmen. Dann zwei Stockwerke hoch über knarrende, hölzerne Stufen. Nichts für Pyrophobe. Schliesslich biegt der Weg auf eine Wendel­treppe aus Eisen ein, nicht breiter als achtzig Zentimeter; sie schwankt ein bisschen und singt metallisch. Nichts für Klaustrophobe.

 

Der Zuschauerraum befindet sich unter dem Dach im vierten Stock. Das Publikum sitzt auf Bänken, Schulter an Schulter, und wartet auf den Beginn der Vorstellung. Doch das Funkgerät der Platzanweiserin verrät, dass noch ein Besucher unterwegs sei. Weil er schon vorgerückten Alters ist, benötigt er für die vielen Stufen etwas Zeit, und wie er oben eintrifft, ist er ausser Atem. Das Gesicht der Platzanweiserin verzieht sich zu einem breiten Lächeln: "Willkommen im Paradies!" Doch der Herr antwortet schlagfertig: "Heute lieber noch nicht!"

 

Gleichwohl fängt jetzt ein Mann mit Hut an, vom Tod zu reden. Er sitzt auf einem hölzernen Drehstuhl vor den Zuschauern und spricht vom Tod des Vaters. Durch ihn kam der Mann um sein Wohnrecht im elterlichen Haus. Aber auch zur Begegnung mit einer Frau am Kanalufer. Sie wurde seine erste Liebe. Nach ein paar Monaten sagte sie, sie sei schwanger. Doch bevor das Kind zur Welt kam, haute der Mann ab. Wann war das eigentlich? Im Todesjahr des Vaters. Und wann war das? Das muss auf dem Grabstein stehen. Darum sucht nun der Mann mit Hut den Friedhof auf. Dort kann er errechnen: "Ich war damals 25-jährig."

 

Schon hat sich der Erzählfluss in mehrere Arme geteilt, wie sich das bei labilen Lebensverhältnissen oft ergibt. Beim Eigenbrötler ist der Wunsch nach Ungebundenheit vermischt mit Beziehungsunfähigkeit und Schuld. Sie führen zu einer Gegenwart, die von Reflexionen bestimmt ist, genauer: vom Widerschein des Vergangenen. Der Mann füllt seine Zeit mit Gruppieren und Umgruppieren von Erinnerungsstücken. Er ist der Überlebende seiner selbst.

 

Mit dieser Struktur leitet die Erzählung "Premier amour" (der erste Text, den Samuel Beckett auf Französisch verfasst hat) bereits zum Personal von "Warten auf Godot", "Endspiel", "Glückliche Tage" und "Das letzte Band". Bei allen Figuren liegt das Beste hinter ihnen. Jetzt schauen sie sich beim Erinnern und Denken zu, kommentieren ihre seelischen Vorgänge und die Vergangenheit und täuschen sich mit derlei Reflexionsspielen darüber hinweg, dass sie vor dem Ende stehen. So auch der Mann mit Hut. Er ist gleichzeitig Souverän und Wurm. Gleichzeitig einsam und Mittelpunkt der Welt.

 

Jetzt kommt die "erste Liebe" im "Paradies" zu Laut, als sei sie Fleisch geworden, und zwar in Gestalt von Jean-Quentin Châtelain. Der Schauspieler spricht den Text als jener Eigenbrötler, den Beckett "ich" sagen liess.

 

Vom Nachlassverwalter erhielt Regisseur Jean-Michel Meyer die Aufführungsrechte unter der Bedingung: "Keine Musik, kein Dekor, keine Gestikulation." Unter dieser Vorgabe steigert sich jetzt der "Premier amour" vom Schauspiel zur Begegnung. Den Zuschauern kommt es vor, als befänden sich nicht mehr auf Erden, sondern, nun ja, im Paradies.

 

Gruppieren von Erinnerungsstücken. 

 
 
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