Schreiben als Therapie. © Brigitte Enguérand, coll. Comédie-Française.

 

 

Rien ne s'oppose à la nuit. Delphine de Vigan.

Schauspiel.

Fabien Gorgeart, Thomas Vessière, Henri Coueignoux.

Comédie-Française, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Wenn es noch der erste biografische Text wäre, der von einer Soloschauspielerin auf der Bühne zum Vortrag kommt! Dann könnte man sagen: "Ah! Interessant! Ein neues Genre!" Oder wenn es der erste Text wäre, der (so wird wenigstens behaup­tet) von wirklich Vorgefallenem spricht! Dann könnte man sagen: "Ah! Mutig!" Oder der erste Text, der die Schwierig­keiten seines Zustandekommens thematisiert! Dann könnte man sagen: "Ah! Unerhört! Wirklich originell!" Aber nun ist "Rien ne s'oppose à la nuit" bloss ein zusätzliches Stück unter andern, wie das Croissant, welches das Fliessband verliess, um auf dem Frühstücksteller zu landen. Nicht des Aufhebens wert. <

 

Zusammen mit der Autorin Delphine de Vigan hat die Schauspie­lerin Elsa Lepoivre das 500 Seiten starke Buch "Rien ne s'oppose à la nuit" auf 50 Seiten heruntergebracht, die jetzt den Untertitel "Fragmente" tragen. Sie berichten von einer Recherche, die nach dem Tod einer Mutter einsetzt, und wie immer, wenn ins Familienleben gegriffen wird, kommt allerlei Grässliches zutage: Erstickungstod des 17-jährigen Bruders (er hatte zum Onanieren einen Plastiksack über den Kopf gezogen), Selbstmord eines weiteren Bruders ("der einzige, der wirklich gläubig war"), Unfalltod eines dritten Bruders im Kindesalter und schliesslich Ableben der bipolaren Mutter, nachdem sie das Geständnis, mit 16 vom Vater missbraucht worden zu sein, schriftlich niedergelegt und verbreitet hatte. Wären Lydia Zwahlen, der Putzfrau aus Bümpliz, diese Schrecknisse noch zu Ohren gekommen, hätte sie weise genickt: "Unter jedem Dach ein Ach."

 

Die Gestalt der Autorin auf der Bühne erklärt, sie habe das Buch abfassen müssen, um den Fluch der Voreltern von den Kindern abzuwenden. Welch unerhörter Einfall: Schreiben als Akt der Befreiung! Schreiben als Therapie! Um mit derlei öffentliches Interesse beanspruchen zu können, muss eine von drei Bedingungen erfüllt sein: 1. Die Thematik hat Aufwind (Inzest, Me-Too). 2. Die Autorin ist bekannt durch Film, Fernsehen und verschiedene Literaturpreise. 3. Der Text zeichnet sich in der Machart aus durch besondere Sensibilität und Originalität. "Rien ne s'oppose à la nuit" erfüllt die Bedingungen 1 und 2.

 

Elsa Lepoivres Interpretation ist zurückhaltend und sachlich. Die Inszenierung von Fabien Gorgeart macht kein X für ein U. Lange Zeit schwingt aber in Tonfall und Gebärden eine leise Künstlichkeit mit, die anzeigt, dass die Schauspielerin nicht ganz in der Figur ist, sich aber Mühe gibt, es gut zu machen, wie es der Comédie-Française angemessen ist. Diese Anforderung erfüllt das Licht, für das gleich zwei Namen zeichnen: Thomas Vessière und Henri Coueignoux. Der schimmernde Raum erinnert an Mark Rothko und taucht den traurigen Familienknäuel in den Hauch milder Versöhnlichkeit. Das ist wohl auch das Beste, das man der Nachtschwärze entgegensetzen kann.

 

Schreiben als Akt der Befreiung. 

 
 
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