Die Abzweigung ins Surreale. © Lionel Nakache.

 

 

Les couleurs de l'air. Igor Medjisky.

Schauspiel.

Igor Medjisky. Théâtre des Bouffes du Nord, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Drei Stunden dauert das Schauspiel. Je länger es fort­schreitet, desto deutlicher tritt zutage, welch ein Talent am Werk ist. Es steigert die Intensität, indem es das Geschehen laufend umgruppiert und neu erzählt. Dadurch entsteht Mehrbödigkeit. Zusammengehalten wird das komplexe, wider­sprüch­liche Ganze durch den Grundsatz: "Du kannst deinen Augen nicht trauen!" Dieser Gedanke, konsequent zuende gespielt, führt zu rätselhafter, lange nachglühender Schönheit. <

 

Am Anfang sieht es so aus, als werde wieder ein Stück inszeniert, das sagt, es sei vom Tod eines Elternteils veranlasst worden. In der Comédie-Française ist es der Tod der Mutter in "Rien ne s'oppose à la nuit", in den Bouffes du Nord der Tod des Vaters in "Les couleurs de l'air". Beide Produktionen berichten, auf welche Schwierigkeiten ein Autor stösst, wenn er, gestützt auf seine Erinnerung und die Aussagen der Hinterbliebenen, einen Abgeschiedenen porträ­tieren möchte. Da gilt es Widersprüche aufzulösen, Unklarhei­ten zu erhellen, Lücken zu schliessen und die Glaubwürdigkeit von Aussagen abzuwägen, die auseinanderlaufen auf Grund von unter­schied­lichen Erinnerungsstrukturen, Eitelkeit, Scham, dem Bedürfnis, sich oder andere zu schützen. Bei diesem Prozess kann, wie bei aller Geschichtsschreibung, niemand mit Bestimmtheit ermitteln, wie er oder sie oder es "eigentlich" gewesen war.

 

Als Autor steigert Igor Medjisky für seine "Les couleurs de l'air" die Mehrbödigkeit, indem er die Rekonstruktion durch einen Cineasten vornehmen lässt. Was das Publikum sieht, ist also nicht die Wirklichkeit, sondern ein Filmset, und es sieht nicht die Angehörigen, sondern Filmschauspieler (die in Wirklichkeit von Theaterschauspielern verkörpert werden, die Filmschauspieler spielen), die Angehörige spielen, denen der Cineast so schlechte Texte geliefert hat, dass sie improvi­sieren, also ihre unbekannten Figuren mit Elementen vervoll­ständigen müssen, die nicht aus dem Leben stammen, sondern aus dem fiktionalen Handwerk. Darum kannst du deinen Augen nicht trauen.

 

Die Komplexität des Problems verschärft sich dadurch, dass Igor Medjisky bei der Testamentseröffnung ans Licht kommen lässt, dass der Vater ein Betrüger war und sein Vermögen erschwindelt. Die Angehörigen sehen sich einem Haufen Schulden gegenüber. Der Anwalt kann ihnen nur raten, das Erbe auszu­schlagen. Aber damit ist das Problem erst auf der materiellen Seite gelöst. Auf der seelischen entwickelt das Minus einen Sog; es will aufgefüllt werden: Was führte zu den Schulden? Warum hat der Vater sich und die Angehörigen in ein Gewirr von Lügen eingesponnen? Mit diesen Fragen erhebt Igor Medjisky den Satz: "Du kannst deinen Augen nicht trauen!" in die zweite Potenz.

 

Die Unmöglichkeit auseinanderzuhalten, was auf der Bühne Flunkerei, Wahrscheinlichkeit oder Erfindung ist, wächst jedoch nicht nur dem Publikum über den Kopf, sondern auch dem Cineasten. In seiner Verzweiflung wählt er die Nummer des Vaters, und erstaunlicherweise wird der Anruf zwei Jahre nach dessen Tod entgegengenommen. Die warme, ruhige Stimme des Abgeschiedenen bittet, eine Nachricht zu hinterlassen; er werde so bald als möglich zurückrufen.

 

Dann steht der Vater eines Abends da, im Hotelzimmer. Der Cineast kann seinen Augen nicht trauen. Das Problem steigert sich in die dritte Potenz: Was für eine Art Wirklichkeit ist soeben eingetreten? Einbildung? Wunschdenken? Wahnsinn? So oder so: Auch dem Publikum ist der Boden entzogen. Es hat nicht mehr die Objektivität der Bühne vor sich, auch nicht die Fiktion einer Filmaufnahme, sondern jetzt sieht es, was die Hauptfigur sieht. Es befindet sich folglich nicht mehr vor dem Geschehen, sondern im Kopf des Hauptbeteiligten.

 

Mit diesem Schritt hinter dem Spiegel springt das Spiel über "Die Farben der Luft" in seine vierte und letzte Potenz und führt in eine andere Welt; man kann sie Traum, Unbewuss­tes, Jenseits nennen. Auf der Vorbühne steht der Schauspieler Igor Medjisky, der den Cineasten verkörpert, und spricht mit dem Gespenst des Vaters, und das Gespenst antwortet ihm, ohne anwesend zu sein, aus dem Mund des Sohns, so dass das Spiel jetzt der Grenze zum Spaltungsirresein entlangschrammt und Hamlets Begegnung mit dem Gespenst des Vaters evoziert, welch letztere der Schauspieler 2009 und 2011 inszeniert hat. Mit dieser Pointe gleitet die Vielschichtigkeit des künstlerischen Vorgangs ins Surrealistische.

 

Bei "Les couleurs de l'air" ist Igor Medjisky sein eigener Stückeschreiber, sein eigener Regisseur und sein eigener Hauptdarsteller. Er hat den Mut und die Stärke, der Weggabe­lung ins Absurde zu folgen bis zum Punkt, vor dem der mit 31 Jahren verstorbene Neuenburger Schriftsteller Francis Giauque warnte: "Das Schreiben hat seine Gefahren. Nach einer gewissen Zeit wendet es sich gegen dich." Giauque flüchtete in Alkohol, Medikamente und Drogen. Medjisky aber bannt die Gefahr durch Steigerung in reine, rätselhafte Schönheit. Und die glüht noch lange nach.

 

Den Lebenden erscheint plötzlich ... 

... der verstorbene Vater als König ... 

... oder doch nur so, wie er immer war?

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