Besuch eines Monuments. © Matthias Horn.

 

 

Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! Elfriede Jelinek.

Schauspiel.

Frank Castorf. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.


> "The same procedure as last year." Mit "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" pflegen Elfriede Jelinek und Frank Castorf ihre Marke. Die Jelinek liefert Wortagglutinationen zu Pest, Corona, Neoliberalismus, den vormals türkisen Parteifarben der ÖVP, dem früheren Kanzler Kurz, der Verwandlung von Odysseus' Gefährten in Schweine und der industriellen Tierschlachtung. Die Abhandlung der Themen auf der Bühne des Akademietheaters dauert dreieinhalb Stunden inklusive Pause. Castorf verwendet dafür seinen bewährten Mix von Live-Video und analogem Spiel, angereichert mit der prallen Theatralik von Klängen, Dekorationen, Kostümen, Gebärden, Schminke, Perücken und erregten Stimmen. So bringt die österreichische Erstaufführung wie bei allem, was ein Markenzeichen geworden ist, "more of the same". Der Käufer bekommt genau die Ware, für die er bezahlt hat, und wie bei jedem guten Handel geht die Rechnung für alle Seiten auf. <

 

Vor drei Wochen ging es auf France Culture um die Anstössig­keit der alten Texte in Bezug auf Wokeness. Der Philosoph Alain Finkielkraut empörte sich: " 'Madame Bovary' und 'La Recherche du temps perdu' sind nicht irgendwelche Texte, sondern Monumente unserer Kultur. Monumente kritisiert man nicht, man sucht sie auf!" (On ne les critique pas, on les visite !) Diese Haltung führte das Wiener Publikum am Samstag, den 22. Oktober ins Akademietheater. Es suchte die Monumente Jelinek und Castorf auf. Die eine Hälfte wusste aus Erfahrung, was zu erwarten war, wollte sich vielleicht sogar an der Wiederbegegnung mit den wilden Zeiten der eigenen Jugend erbauen; die andere Hälfte kam aus Neugier, hatte die Älteren von den Monumenten reden hören und wollte sie jetzt kennenlernen.

 

Von Schar wird man nicht reden können; eher von Gruppe oder Grüppchen. Von den 550 Plätzen im Akademietheater blieben an diesem Samstagabend 350 unbesetzt. Und nach der Pause fanden nur noch hundert Besucher in den Zuschauerraum zurück. Sie standen alle im Alter, mit dem man bei den Wiener Linien ein Seniorenticket beanspruchen kann. Am äussersten Sitz einer leeren Reihe probierte eine tapfere junge Dame aus, ob der zweite Teil etwas Neues bringe. Doch als sie sich in ihrer Hoffnung betrogen sah, erhob sie sich lautlos und verschwand. Ein schmaler junger Mann im Seitenblock rechts ertrug das Gebrüll, in das die letzte halbe Stunde eingemündet war, zwanzig Minuten lang, dann ging er leise zum Ausgang. "Arschloch!", rief ihm eine Männerstimme nach. Für den Schlussapplaus stand die Hälfte des Publikums auf, meist schlanke, grossgewachsene Damen mit weisser, ungefärbter Pagenfrisur, und die Darsteller klatschen ihnen von der Bühne aus zurück.

 

Ob sich Castorf daran gefreut hätte? Vor ein paar Jahren sagte er in einem Interview:

 

Denken Sie nicht, dass ich weiss, wie viele Menschen in meine Vorstellungen kommen, sich langweilen oder schockiert sind - aber sich nichts anmerken lassen, weil sie glauben, dass das modern sei?

 

Bei "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" werden Stück und Inszenierung miteinander durch den Gestus der Wut verbunden. Diese Emotion ist Frank Castorfs Markenzeichen, und durch sie kommt auch Elfriede Jelinek zum Schreiben. In ihren Augen haben Neoliberalismus, Corona, ÖVP, Ex-Kanzler Kurz und die Pest gemeinsam, dass sie die Menschen zu Schweinen machen. Homers "Odyssee" berichtet von dieser Verwandlung im Gesang mit der Zauberin Kirke. Dort verlieren die Menschen die Gestalt, behalten aber ihren Verstand. In der Gegenwart ist es umgekehrt: Da verlieren die Menschen den Verstand, behalten aber ihre Gestalt. Darum sieht man ihnen das Schweinische nicht an. Aufgabe der Bühne ist es jetzt, diese Widernatür­lichkeit zu denunzieren, damit die "Blinden" im Zuschauerraum durch intensive, dreieinhalbstündige Zeremonien zum "Sehen" kommen.

 

Was die einen als Überorchestrierung und unerträgliche Langeweile empfinden, erleben die andern als heilige, anarchische, antikapitalistische Messe, für deren Zelebration sie sich am Ende mit hellem Jubel bedanken. Am Samstag, den 22. Oktober waren das dreissig zumeist schlanke, grossge­wachsene Damen mit weisser, ungefärbter Pagenfrisur, und zwanzig Herren des gleichen Zuschnitts, allesamt Jahrgänge­rinnen und Jahrgänger von Castorf und Jelinek. Die Jugend aber war draussen und bewegte sich in Scharen durch die Innere Stadt.

 

Dazu gehört pralle Theatralik ... 

... von Kostümen und Schminke. 

 
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