Tanz zu wuchtigen Schlagzeugklängen. © Klara Beck.

 

 

Until the Lions. Thierry Pécou.

Oper.

Shobana Jeyasingh, Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. Oktober 2022.

 

> Was für eine Koinzidenz! Mit der Ideologisierung des Theaters erhebt auch wieder der Kitsch sein Haupt. Wohin man immer blickt, bietet die Bühne nicht mehr Kritik, Mehrbödig­keit, "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" (um Christian Dietrich Grabbe zu zitieren), sondern stures Mantra, pseudo­religiöse Andacht. So jetzt auch die Strassburger Rheinoper. Mit "Until the Lions" verpasst sie dem indischen Epos "Mahabarata" (bekannt als "das längste Gedicht der Welt") einen Zuschnitt, der "die weibliche Perspektive" ins Zentrum stellt. <

 

Vor zweihundertfünfzig Jahren, als Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf die Herrnhuter Brüdergemeine begründete und damit die Bewegung des Pietismus befeuerte, schrieb er das Kirchen­lied "Wie schön leuchtet der Morgenstern" aus dem Jahr 1599 um. Die zweite und dritte Strophe führten jetzt die Gläubigen direkt in die Ekstase:

 

(2.) Des wunden Kreuz-Gotts Bundesblut, die Wunden-Wunden-Wunden-Flut, ihr Wunden!, ja, ihr Wunden! Eur Wunden-Wunden-Wunden-Gut macht Wunden-Wunden-Wunden-Mut, und Wunden, Herzenswunden. Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Wunden! Oh! ihr Wunden!

 

(3.) So sei denn tausendfach gegrüsst, du Blut von mein'm HErrn JEsu Christ! Du erste Bundsgliedswunde! Du blutger Todsschweiss in dem Wein, den du zum Bund gesetzt hast ein! Du Schweiss zur Bundskampfsstunde! Wunden! Wunden! Geissel­wunden! Dornenwunden! Nägelschrunden! Speerschlitz! Dank euch's GOtt, ihr Wunden!

 

Gleichwertiges bietet nun das Libretto von Karthika Naïr für Thierry Pécous Oper "Until the Lions", eine Auftragsarbeit der Opéra National du Rhin zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen. Das Werk gipfelt in den Versen:

 

Begin to end.

End glory. End god.

End harm. End hate.

End heroes. End demons.

End chords. End words.

End to end.

 

Im Unterschied zu "Parsifal", der mit "Erlösung dem Erlöser!" zuende geht, wird, anders als in der Strassburger Wagner-Inszenierung von 2020, keine Rahmenhandlung eingeführt, keine Regietheater-Verschiebung von Burg und Waldlichtung ins naturhistorische Museum vorgenommen, sondern die Botschaft, dass Erlösung und Heil von der Frau kommen (während der Mann Krieg und Raub bringt), wird von der Choreographin Shobana Jeyasingh mit aller gebotenen Andacht zelebriert. Und mit gleichem Glaubensernst nimmt das Elsässer Opernpublikum das pseudo-sakrale Bühnenweih­festspiel in sich auf.

 

Wie anders ging es noch zu vor hundert Jahren bei der heiligen Messe im stockkatholischen Wallis! Maurice Zermatten erinnert sich:

 

Parfois, un hoquet de rire éclatait. Quelque garnement venait de faire une grimace ; un garçon, tenté par le diable, pouffait. L'hilarité se répandait, contagieuse.

 

(Manchmal brach ein Lachkrampf aus. Ein Bengel hatte eine Grimasse geschnitten; ein Junge, vom Teufel in Versuchung geführt, kicherte. Das Gelächter breitete sich aus, unwiderstehlich.)

 

Bei "Until the Lions" indes wird nicht gelacht, sondern nur genickt. Denn Werk und Inszenierung meinen es ernst, und Thierry Pécous Komposition unterstreicht das, indem sie den Männern aggressive Fanfarenklänge und wuchtige Schlagzeug­ausbrüche zuweist, den Frauen aber sanftes, nachdenkliches Streicherpiano.

 

Und damit sind wir beim Kitsch, also einem "geschmacklosen Erzeugnis, das sich als Kunstwerk ausgibt". Es gebe, erklärte das "Wörterbuch der Kunst" vor fünfzig Jahren, verschiedene Arten von Kitsch:

 

Weit verbreitet ist der sentimentale Kitsch, der mit süsslichem Inhalt und in süsslicher Form auf den Beschauer zu wirken sucht. Er zeigt besonders deutlich ein allem Kitsch wesentliches Merkmal: keinerlei geistige Anforde­rungen an den Beschauer zu stellen, um von ihm mühelos aufgenommen werden zu können. Das Mittel dazu ist, mit Vorstellungen zu arbeiten, die allen geläufig sind. Kitsch ist also das Gegenteil von allem, was im Kunstwerk Kraft, Tiefe, Spannung, Originalität heisst.

 

Mit der Ideologisierung des Theaters hat diese Definition neue Aktualität bekommen, denn das Rad der Kunst­entwicklung dreht zurück. Gefragt ist heute Eindeutigkeit statt Mehrdeutigkeit, Ernst statt Spass, Konformität statt Eigenständigkeit.

 

Das Theater ist ein Kuschelraum für politisch korrekte Künstler geworden, um sich und die Zuschauer vor unange­nehmen Erlebnissen zu schützen. Aus dieser Zone heraus lässt sich kein Theater machen, das den Zuschauer bewegt, aufwühlt oder gar verstört.

 

(Robert Hunger-Bühler in der "Sonntagszeitung" vom 9. Oktober 2022.)

 

Danton: Robbespierre, du bist empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen, dreissig Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiog­nomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloss um des elenden Vergnügens willen, andre schlechter zu finden als mich. – Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: du lügst, du lügst!?

 

Robbespierre: Mein Gewissen ist rein.

 

Danton: Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält; jeder putzt sich, wie er kann. Bist du der Polizeisoldat des Himmels? Und kannst du es [das Unkorrekte] nicht ebensogut mitansehen, als dein lieber Herrgott, so halte dir ein Schnupftuch vor die Augen.

 

Robbespierre: Du leugnest die Tugend?

 

Danton: Und das Laster.

 

(Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama.)

 

Aggressive Männer. 

Trauernde Frauen. 

 
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