Das spirituelle Heil liegt im Matriarchat. © Rob Lewis.

 

 

Sycorax. Georg Friedrich Haas.

Oper.

Bas Wiegers. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. September 2022.

 

> Je länger die Aufführung fortschreitet, desto weiter entfernt sie sich vom Theater und versinkt im Sumpf des Gutmenschentums. Und durch den letzten Satz wird für alle, die noch das falsche Bewusstsein haben, die Erweckungs­botschaft besiegelt: Das einzige Land, wo Menschen leben könnten, sei, verkündet die Oper, "das Land der Liebe". - O sancta simplicitas! (o du heilige Einfalt), soll, der Überlieferung nach, Johannes Hus gerufen haben, als er, auf dem Scheiterhaufen stehend, bemerkte, wie ein altes Mütterchen sich anschickte, ein glühendes Holzstück hinzuzutragen, das vom Stoss heruntergerollt war. Es glaubte, sich mit dieser guten Tat die Seligkeit zu verdienen. Jetzt bringen die Bühnen Bern mit "Sycorax" ihrerseits das Scheit zum Feuer, um dem kolonialistischen, rassistischen, kapitalistischen und machtgierigen alten weissen Mann den Garaus zu machen. Hat jemand etwas dagegen? Pfui! Dieser Kritiker gehört an den Pranger! Er ist kein guter Mensch. <

 

Im Finstern tritt Bas Wiegers, der Dirigent, aufs Podium und verharrt mit gesenkten Armen vor den Streichern des Berner Symphonieorchesters. Nichts ist zu hören als das diskrete Rauschen der Lüftungsanlage. Mit der Zeit wächst die Ruhe aus zum Warten auf den ersten Ton. Doch immer noch kommt nichts von den Instrumenten. Dafür, horch, aus der Luft. Die Stimmen unsichtbarer Geister summen und sirren nicht nur von vorn, sondern auch von hinten. Sie durchweben den Raum. Kinder können sie hören, sagt die Oper. Und die unschuldigen Naturwesen. Nicht aber der alte weisse ausbeuterische Mann.

 

Und schon wächst "Sycorax" von der Oper aus zum Manifest. Es schreibt Shakespeares "Sturm" nach den Regeln der Wokeness um. Der vom Tod bedrohte Prospero, weggeputschter Herzog von Mailand, wird nun zum Vertreter des technizistischen Anthropozäns und damit zum Verräter an der weiblich bergenden, gutmütigen Natur, dargestellt durch Sycorax, einstmals Hexe, jetzt aber spirituelle Vertreterin des Heils im Matriarchat. Auf diese Weise verteilen Georg Friedrich Haas (Komponist) und Harriet Scott Chessman (Autorin) die Rollen neu, um eine neue Menschheitsära im Zeichen der Liebe zu verkünden.

 

Dramaturgisch erfolgt die Message durch eine Reihe von Einzelszenen, in denen Sycorax und ihr Sohn Caliban, Prospero und seine Tochter Miranda ihre Vergangenheit und ihre Position (im Fall der Entrechteten auch ihre Forderungen) monologisch vortragen. Die Verlautbarungen sind eingebettet in einen Streicherteppich, bei dem die Grenze zwischen Komposition und Sound Design durchlässig ist. Der Gesangsstil oszilliert zwischen Elegie und Zornesarie.

 

Die Leistung aller Beteiligten zeichnet sich aus durch Kraft und Engagement. Die Produktion ist aus einem Guss. Künstle­risch betrachtet, folgt "Sycorax" indes dem Mainstream, anstatt neue Fragen zu stellen. Doch gibt die Produktion damit Ensemble und Publikum das gute, satte Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, bzw. zu sitzen, und bestätigt die Beobachtung des kolumbianischen Selberdenkers Nicolás Gómez Dávila: "In den Künsten nennt sich Authentizität die Konvention des Tages."

 

Durch die "Konvention des Tages" wird jetzt Thomas Bernhards Forderung nach Unheimlichkeit entsorgt:

 

Unheimlichkeit sonst nichts

(überdeutlich)

nichts als Unheimlichkeit

Das Publikum strömt von allen Seiten

strömt strömt von allen Seiten

um den Schauspieler zu sehen

und der Schauspieler begegnet dem Publikum mit nichts

als mit Unheimlichkeit

Das Publikum wird auf die Probe gestellt

Das Publikum muss von dem Schauspieler entsetzt sein

In jedem Augenblick muss sich der Schauspieler sagen

das Publikum stürzt auf die Bühne

In diesem Zustand hat er zu spielen

gegen das Publikum

gegen die Menschenrechte verstehst du

 

Bei "Sycorax" indes sieht sich das Premierenpublikum in seinen tiefsten Überzeugungen bestätigt, und dankbar steht es am Ende auf, um sich für die Botschaft der Bühnen Bern zu bedanken wie die Gläubigen in Rom für den Ostersegen des Papstes.

 

Die traurige Welt ... 

... des weissen Mannes ...

... kann abdanken. 

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