Die Zauberflöte. Wolfgang Amadeus Mozart.
Oper.
Thomas Rösner, Patrick Schlösser, Alexander Kreuselberg. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. September 2022.
> Eine durch und durch kulinarische "Zauberflöte" – also eigentlich ein Unding. Es ist, als ob Intendant Florian Scholz den Frühstücksraum des Klagenfurter Hotels "Sandwirth" ins Berner Stadttheater gebeamt hätte. Am Buffet finden sich auserlesene Schmankerl (Köstlichkeiten) in kleinen Schalen. Einzelne sind derart schmackhaft, dass es sich lohnt, dafür Schlange zu stehen. Zu den Gustostückerl gehören die Königin der Nacht, Sarastro, Papageno, der erste Priester und die drei Knaben. Was in den anderen Schalen liegt, ist auch nicht zu verachten, zumal das Ganze angerichtet wird von einem Chef der Sonderklasse, der die Küchenbrigade namens Berner Symphonieorchester zu Michelin-Stern-würdigen Leistungen antreibt. Auf den Magen drückt einem nur die Innenarchitektur (sprich: Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme). Der Spannteppich, das Mobiliar und die Tapeten stammen stilistisch aus den siebziger Jahren und genügen heutigen Ansprüchen nicht mehr. Am besten fährt man deshalb, wenn man bei der Klagenfurter "Zauberflöte" nur auf dem Teller schaut und nicht in den Raum, also die Genüsse mit den Ohren einlöffelt und nicht mit den Augen. <
Auf der Bühne steht ein Podest. Die Darsteller besteigen es aus der Gasse, nehmen Stellung und singen nach vorn. Auf die Masse des Podests sind die gemalten Hintergrundprospekte abgestimmt. Für einmal wird die Handlung im Berner Stadttheater also nicht vom Goldportal eingefasst, sondern von der Schwärze des Bühnenraums. Zwei Deutungen sind möglich: (a) Die Welt ist umgeben von Chaos und Finsternis; oder (b) die Bühne des Stadttheaters Klagenfurt, für welche das Werk ursprünglich inszeniert wurde, hat bescheidenere Dimensionen als Bern. So oder so - was das Inszenatorische betrifft, ist die Bern/Klagenfurter "Zauberflöte" eine Nummer zu klein.
Reduziert sind nicht nur die Raummasse, sondern auch die Handlungselemente. Die Schlange bewegt sich nicht mehr durch den Raum (Schikaneder: "eine Schlange verfolgt Tamino"). Als Kurt Josef Schildknecht 2017 "Die Zauberflöte" für die Festspiele der Oper Burg Gars inszenierte, erklärte er: "Man muss die Schlange zeigen! Sonst sind die Kinder enttäuscht." In Bern erscheint das Ungeheuer lediglich als gemaltes Ornament auf der rückwärtigen Kulisse.
Die drei Damen treten ohne Speer auf (Libretto: "drei verschleierte Damen kommen heraus, jede mit einem silbernen Wurfspiess") und bewegen beim Singen bloss ab und zu eine Hand. Damit zeigt sich bereits: Was in den nächsten drei Stunden folgt, ist Steharientheater.
Zwar ist alles noch da: Die Mondscheibe beim Auftritt der Königin der Nacht, die Sonnenscheibe bei Sarastro, die Flöte bei Tamino ("Die Zauberflöte wird dich schützen, / Im grössten Unglück unterstützen."), das Glockenspiel bei Papageno ("Hier nimm dieses Kleinod, es ist dein!"), ja aus dem Schnürboden senkt sich auch der Selbstmörderstrick, wenngleich der Baum zur Befestigung wegbleibt ("Er nimmt einen Strick von seiner Mitte. 'Diesen Baum da will ich zieren, / Mir an ihm den Hals zuschnüren, / Weil das Leben mir missfällt; / Gute Nacht du schwarze Welt!' "). Aber diese Elemente sind allesamt reduziert aufs Minimum. Für die Konzeption zeichnen Patrick Schlösser (1972-2017) und Alexander Kreuselberg. Von Inszenierung kann nicht die Rede sein; hier ist die Bezeichnung "halbszenische Wiedergabe" angemessen.
Kaiser Josef II. indes hätte zu dieser "Zauberflöte" genickt. Peter Shaffer zufolge warf er ja dem Komponisten vor: "Zu viele Noten, Mozart, zu viele Noten!" Deshalb hätte ihm die gesäuberte Aufführung gefallen: "Brav, meine Lieben, brav!" Zumal die Wokeness an drei Punkten nicht vernachlässigt wird.
(1) Sarastro stützt sich zum Gehen auf zwei dürre, rohe Äste, ohne dass nachvollziehbar wäre, woher er sie hat (da doch Papagenos Baum gestrichen wurde). Aber die Botschaft ist klar: Die "Herr"scher-Macht ruht auf schwachen Beinen.
(2) Der Kampf von Matriarchat und Patriarchat, den man in der "Zauberflöte" abgebildet sehen kann, soll begraben werden zugunsten eines freien, genderneutralen Zusammenlebens. Darum werden die Königin der Nacht und Sarastro im Finale unter einem schwarzen Schleier entsorgt.
(3) Überwunden werden soll auch der Rassismus. Aus diesem Grund wird die Rolle von "Monostatos, ein Mohr" mit einem Weissen besetzt, dessen Gesicht zusätzlich weiss geschminkt ist. Wenn Giada Borelli, die Darstellerin der Pamina, singt:
Herr, ich bin zwar Verbrecherin! –
Ich wollte deiner Macht entfliehn. –
Allein die Schuld ist nicht an mir!
Der böse Mohr verlangte Liebe,
Darum, o Herr, entfloh ich dir! -
dann zeigt die Übertitelung statt "der böse Mohr": "der böse Mann".
So wird denn auch im Übereifer der Wokeness die Arie des Monostatos purgiert. Im Original singt der Mohr:
Alles fühlt der Liebe Freuden,
Schnäbelt, tändelt, herzet, küsst –
Und ich soll die Liebe meiden,
Weil ein Schwarzer hässlich ist!
Ist mir denn kein Herz gegeben,
Bin ich nicht von Fleisch und Blut?
Immer ohne Weibchen leben
Wäre wahrlich Höllenglut.
In Bern heisst es nun anstelle von "ein Schwarzer ist hässlich": "mein Ansehn ist hässlich". Ein Unglück.
Das Regieteam hat nämlich nicht erkannt, dass Emanuel Schikaneder und Wolfgang Amadeus Mozart, die beiden Brüder der Freimaurerloge "Zur Neugekrönten Hoffnung", mit der Arie des Monostatos ein Plädoyer für ungeteilte Humanität vorbrachten. Deshalb zitierten sie bei Monostatos die Argumentation von Shakespeares Shylock:
Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit der selben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von ebendem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Die Inszenierung des Stadttheaters Klagenfurt ist also übers Ganze gesehen unbeträchtlich und im Einzelnen anfechtbar. Doch der Mensch hat nicht nur Augen, sondern auch Ohren.
Seinerzeit pflegte Hugues Gall, der Direktor der Pariser Nationaloper, den Feinden des Regietheaters zu entgegnen: "Wenn Ihnen die Inszenierung missfällt, schliessen Sie die Augen. Sie bekommen immer noch erstklassige Musik." Das trifft auch fürs Nichtregietheater von Bern zu. Und hier liegt für alle, die die Oper lieben, das Entzücken, die Freude und das Glück.
Es beginnt mit der Ouvertüre. Schon die ersten Takte zeigen: "Das wird's!" Das Berner Symphonieorchester, welches seit der Ära Edusei seinen Mozart drauf hat, bringt unter Thomas Rösner pulsierende Wärme, belebte Schönheit und wunschlosen Wohlklang. Die Vorzüglichkeit zeigt sich im kompakten Spiel der Bässe, in den wunderbar samtenen Diminuendi und in der Subtilität, mit der sich die Klangfarben ums thematische Zentrum schmiegen. Es ist hier von einer wahrhaft klassischen Interpretation zu reden – unbesehen vom Vorwurf des Gewürzkrämers Zangler in Nestroys Posse "Einen Jux will er sich machen": "Was hat Er denn immer mit dem dummen Wort klassisch?" Darauf der Hausdiener Melchior: "Ah, das Wort is nit dumm, es wird nur oft dumm angewend't."
Jetzt tritt Tamino auf: "Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren!" Filipe Manus sicherem, heldisch-metallischem Tenor antworten die drei Damen Katharina Willi, Lucija Ercegovac und Evgenia Asanova mit perfektem Unisono. Damit ist die Höhe gewonnen, auf der sich Jonathan McGovern als Papageno, Christian Valle als erster Priester und die drei Knaben mit ihren Naturstimmen bewegen (Arlette Isenegger, Ranja Leuenberger und Salome Frey von der Singschule Köniz). Wunschloses Glück.
Die Freude steigert sich zum Entzücken beim Auftritt von Diana Schnürpel als Königin der Nacht. Sie verbindet in ihren beiden Arien Energie und Schönheit zu hinreissender Gestaltung der Koloraturen, und durch die Sicherheit, mit der sie das dreigestrichene f erreicht, überstrahlt sie alle Königinnen der Nacht, die in den letzten fünfzig Jahren am Stadttheater Bern aufgetreten sind.
Gleich beachtlich ist der Gegenpart. Singt die Königin der Nacht die höchste erreichbare Note, so Sarastro die tiefste. Man darf indes Matheus Franças wohlklingenden Bass nicht zu laut rühmen. Katharina Wagner fliegt im Jahr viermal um die Welt, um solche Stimmen zu finden. Deshalb wäre es für die Bühnen Bern eine Katastrophe, wenn die Bayreuther Intendantin in Belp landen würde. Und für die Opernfreunde erst recht.
Der Mond ist da.
Die Prüfungen sind da.
Und die lieben Kinderlein.