Die Mutter befiehlt. © Joel Schweizer.

 

 

Bellissima. Luchino Visconti et al., Bühnenfassung von Katharina Rupp.

Schauspiel.

Katharina Rupp, Nicola Minssen, Gwendolyn Jenins, Samuel Schmid, Dänu "Extrem" Rohrer, Alex Wittwer. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. September 2022.

 

> Bei diesem Premierenerfolg weiss man nicht, wovor man tiefer den Hut ziehen soll: Vor der intelligenten Spielplanpolitik? Ein zugkräftiger Visconti-Film senkt die Schwelle zum Theaterhaus, lädt geradezu ein, der Bühne eine Chance zu geben und zu schnuppern, ob Live-Schauspiel einem zuträglich sei. Wenn man dann einmal im Saal sitzt, wird man gefangengenommen von einem atemberaubend präzisen Handwerk. Der Sinn fürs Timing, der Wechsel der Szenen und Stimmungen, die Wirkung von Räumen, Licht und Kostümen zeugen nicht nur von reifer Meisterschaft, sondern berufsethischer Vorbildlichkeit. Hundertzwanzig Minuten dauert die Aufführung, und nie wird geschludert. Dazu der Joker: Eine Riege von siebzehn Mädchen. Jede Kinderdarstellerin wird drei Dutzend Bekannte und Angehörige mobilisieren. Wirksamer könnte das Theater für sich gar nicht Werbung machen. Also chapeau, chapeau, chapeau! Wenn die Aufführung gleichwohl über weite Strecken durchhängt, liegt der Fehler nicht am Theater, sondern am Stück. Die Dramaturgie ist dürftig, die Handlung platt, das Personal klischiert. Doch vielleicht ist banale Voraussehbarkeit gerade das Richtige für ein theaterfremdes Publikum? Jedenfalls überfordert "Bellissima" niemanden zwischen 7 und 77 Jahren. <

 

Erst wenn man aus der Vorstellung kommt, versteht man das hintersinnige Theaterplakat von Stephan Bundi, das auch auf dem Programmheftumschlag abgedruckt ist. Es bildet, wie immer bei den Produkten des Meisters für Theater Orchester Biel Solothurn, das Sujet in gemalter Form ab und zeigt einen schwarzen Lackstöckelschuh mit Glanzreflexen. Er steht für Glamour und weiblichen Erfolg. Von oben fliesst eine rosarote, sanft geknickte Fläche in den Schuh, füllt ihn aber nur bis zur Hälfte. Das konsistenzlose Farbelement steht für das Bein eines römischen Mädchens namens Maria, und der Schuh fürs Aschenputtel-Paradigma (über Nacht wird ein kleines, übersehenes Wesen zur Prinzessin). Um die Verwirklichung des Märchens durchzudrücken, bringt die Mutter das Kind mit rabiater Gewalt zur Cinecittà, unbeachtet des Umstands, dass der Traum von Berühmtheit und Karriere für Mutter und Kind mehrere Nummern zu gross ist.

 

Stephan Bundis Plakat bildet also ein doppeltes Leiden ab: Das Leiden der Mutter an der Banalität ihrer Situation (sie ist eine freierwerbende Krankenschwester und muss die Römer Diabetiker mit ihrer täglichen Insulindosis versorgen) und das wortlose Leiden der Tochter (die von der ambitiösen Mutter herumgeschleppt wird wie eine Stoffpuppe).

 

Regisseurin Katharina Rupp hat nach Luchino Viscontis Film "Bellissima" eine Bühnenfassung gezimmert, die den hindernis­reichen Weg nach oben "einsträngig" abbildet (wie die Litera­tur­wissenschaft sagt). Wenn der Vorhang aufgeht, beginnt die Aufführung mit einer von Samuel Schmid hervorragend ausge­leuchteten Chornummer, bei der "typisch römische" Kleider und Frisuren (Kostümbild Gwendolyn Jenkins) "italianità" herauf­beschwören – und damit gleich auch Nostalgie und Freude im Zuschauerherzen, die bei den Szenenwechseln durch wir­kungs­starke Nino-Rota-Zitate befeuert werden (Sounddesign Dänu "Extrem" Rohrer und Alex Wittwer).

 

Jetzt wird ein Schnurmikrofon von oben herabgelassen, das die Bühne als Radiostudio definiert. "Lo speaker" macht eine Durchsage: Für einen neuen Film namens "Bellissima" sucht Cinecittà ein Mädchen als Hauptdarstellerin. Das Licht erlischt. Rasch wird die Szene mit wenigen Handbewegungen fürs nächste Bild hergerichtet (Bühnenbild Nicola Minssen). Und bereits hat die Eingangssequenz das Metier aller Beteiligten ins Licht gestellt: Die Bühne führt mit Sinn fürs exakt umrissene, aussagestarke Zeichen im lebendigen Spiel Stephan Bundis Plakatkunst weiter.

 

Einmal mehr beweist sich dabei Regisseurin Katharina Rupps untrügliches Gespür fürs Tempo, für Plazierung, Haltung und Gebärde der Darsteller und das Wechselspiel von Handlung, Licht und Raum. Auf diesem Boden braucht sie das Stück nur noch ablaufen zu lassen, und man ist hin ... sofern das Stück trägt. Doch "Bellissima" tut das nicht. Und da liegt die Krux.

 

Stücktechnisch betrachtet, begegnet die ambitiöse Mutter auf dem Weg nach oben zwar Hindernissen, nicht aber Gegenspielern. Die Handlung bildet darum nur den Willen eines einzigen Menschen ab und nicht auch den eines zweiten, der ihm widerspricht und zuwiderhandelt. So bewegt sich das Stück (in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht) hinter das Drama zurück.

 

Im alten Griechenland bildete sich das Theater dadurch, dass neben den Priester, der den Mythos vortrug, ein zweiter Darsteller hinzutrat. Das Wechselspiel zwischen dem ersten Darsteller (Protagonist) und dem zweiten (Deuteragonist) schuf Spannung. Auf der "Skené" durchkreuzten sich zwei Willens­richtungen, und aus dem Konflikt entstand die Frage: Wer hat recht? Wo liegt die Wahrheit? Wer siegt?

 

Bleibt es jedoch beim einsträngigen Erzählen, verlangt die Handlung nur eine einzige Hauptfigur. Den Rest bestreiten sogenannte Episodenrollen, die, wie Bühnenbildelemente, bloss am gewünschten Zeitpunkt auftauchen und wieder verschwinden. Durch Schminken und Umkostümieren bringt jetzt "Bellissima" in Biel-Solothurn mit zwanzig Darstellern das Zwei- bis Dreifache an Figuren zum Auftritt. Das Menschengewirr schafft das Dickicht, durch das sich die Protagonistin auf dem Weg nach oben hindurchkämpft. Sie aber bleibt (dramaturgisch betrachtet) einsam, und das macht den Abend auf die Länge fad. Zumal Atina Tabé in der Rolle der Mutter – wie die andern Mitwirkenden – auf eine einzige Farbe beschränkt bleibt. Bei ihr ist es gestenreicher, überdrehter Ehrgeiz, der zu arg verwaschener Diktion führt.

 

Zusammengefasst bietet das Schauspiel von Biel-Solothurn mit "Bellissima" zum Saisonauftakt Volkstheater. Diese Sparte verwendet Klischees, voraus­sehbare Situationen und Typen. Wenn Genies wie Johann Nepomuk Nestroy oder Ferdinand Raimund sich damit abgeben, spitzen sie die Einseitigkeit zu und treiben die Darstellung hinauf in die göttliche Absurdität des Humors. Er macht aus Überdrehtheit Kunst. Regisseurin Katharina Rupp indessen hat, um die Vorlage nicht zu denunzieren, vornehm auf die Bremse gedrückt. Das gibt zwar dem Ganzen einen moderaten Anstrich, senkt es aber auch aufs Mittelmass hinunter.

 

Bei allem Respekt fürs Metier der Beteiligten könnte man folglich nicht von einem Erfolg reden, wenn es nicht noch den Joker gäbe: Die siebzehn Mädchen, die an sich, an ihre Rolle und ans Theater glauben. Nina Streit (Theaterpädagogik, Kindertraining) und Nora Bichsel (Choreographie) haben aus den jungen Kräften Vorzügliches herausgebracht. Dazu kommt das Trumpf-As: Maria Cecconi, die Tochter der ehrgeizigen Mutter (Coaching Maria: Manuela Glanzmann). In dieser Rolle steht Emma Lorenzetti (alternierend mit Lorena Flury) den ganzen Abend auf der Bühne. Die Erwachsenen im Stück und im Theater haben sie wie eine Puppe behandelt, aber sie ging ihren geraden Weg durch die Vorstellung, und als sie am Schluss zum Verbeugen nach vorne kam, wurde sie mit Bravorufen über­schüttet. Zu recht. Chapeau, Maria!

 

Episodenfiguren am Familientisch ...

... und im römischen Kinosaal.  

Dazu die Mädchenriege als Joker.

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