Le petit coiffeur. Jean-Philippe Daguerre.
Schauspiel.
Jean-Philippe Daguerre, Juliette Azzopardi. Théâtre Rive Gauche, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. März 2022.
> Mit "Le petit coiffeur" hat Autor und Regisseur Philippe Daguerre "une pièce-bien-faite" geschaffen. Der Begriff bezeichnet laut "Encyclopédie française" "ein brillantes Stück, das sich durch einen virtuosen Plot und eine logisch perfekte Handlungsführung" auszeichnet. Dabei spielt die Dialogtechnik eine grosse Rolle. Philippe Daguerres Text böte Futter für jede Dramenwerkstatt. An ihm liesse sich zeigen, wie dadurch Spannung entsteht, dass das Fortschreiten immer neue Hintergründe aufdeckt. Ibsen war darin Meister. Die Rede bringt das Stück gleichzeitig nach vorn und nach hinten. Beim "Petit Coiffeur" dazu noch in die Tiefe. Das gibt ihm einen warmen, menschlichen Kern. Simenon war darin Meister. Jetzt hängt beim "Petit coiffeur" alles an den Schauspielern. Die Rollen sind mehrfach besetzt. Und, wie sich zeigt, nicht immer überzeugend. Da liegt die einzige, aber entscheidende, Schwäche des Abends. <
Das Théâtre Rive Gauche, also das Haus des Philosophen und Schriftstellers Eric-Emmanuel Schmitt, hat sich – wie in Wien die Josefstadt – klassisch gebauten, substanzhaltigen, gut verständlichen Stücken verschrieben. In jedem Moment ist klar, wo die Handlung steht, aber jeder Moment bringt auch seine Überraschungen. Das zeigt bereits das gescheite Bühnenbild von Juliette Azzopardi. Es bietet dem Blick der Eintretenden in der Mitte der Szene einen Coiffeurstuhl, etwas daneben eine blaue Liege, dazu am linken Rand einen Eimer mit Besen, am rechten Rand ein Trichtergrammophon – schön mit Patina, und doch nur herbeizitiert. Der Naturalismus dient als dramaturgisches Zeichen, nicht als Selbstzweck. Daneben bezeichnet jeder Gegenstand auch einen Spielort. Die Requisiten lassen sich mit einer Handbewegung verschieben; die Wand beiseitedrehen. Auf diese Weise versieht die einfache Bühne des Privattheaters das Drama mit immer neuen Bildern; so dass Eintönigkeit nicht aufkommt und das Spiel einen rhythmisch animierten Charakter behält.
Die Handlung, gut dokumentiert, führt nach Chartres am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Deutschen sind abgezogen. Der französische Staat noch nicht etabliert. Jetzt ist die Stunde der Abrechnungen. Die Volksjustiz rächt sich an den Verrätern und Kollaborateuren. Die Männer werden erschossen; die Frauen auf dem Marktplatz kahlgeschoren, umgeben von einer johlenden Menge. Zu dieser Bestrafung ist der kleine Coiffeur abkommandiert. Man sieht: Da ist zwar "Befreiung", doch herzlos geht es weiter. Gerade schreibt Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung": "Das Böse hat kein typisches Gesicht; und das ist wohl das Typische am Bösen."
Philippe Daguerre denunziert die Selbstgerechtigkeit und den pharisäerhaften Stolz jener Menschen, die sich auf der richtigen Seite wähnen. Das Thema hat seine Aktualität behalten. Auch das Plädoyer für Versöhnlichkeit durch Selbstüberwindung. Mit dieser Volte schwingen sich die Angehörigen des kleinen Coiffeurs, wie Schillers Wilhelm Tell, ins Erhabene hinauf. Der Begriff stammt aus Kants Ästhetik. Paradoxerweise sind es Menschen aus dem Volk, die das Erhabene realisieren. Es handelt sich, wie Schiller erklärte, um einen Akt der Freiheit, "weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen anderen als seinen eigenen Gesetzen stünde".
Doch das Stück, so gut es ist, hätte Mühe, in Deutschland gezeigt zu werden. Dem Wechsel auf die Perspektive der Franzosen stünde schon die Sprache entgegen. Die geistigen Verrenkungen, die eine deutsche Aufführung deutschen Akteuren und Zuschauern abverlangen würde, würden alle überfordern. "Le petit coiffeur" ginge deswegen nur mit französischen Künstlern. Doch angenommen, die Produktion würde mit deutschen Übertiteln ans Berliner Ensemble eingeladen, käme ihm eine zweite Eigenschaft in die Quere: die "clarté". Obwohl sie Brecht und Dürrenmatt auch erreichten, ist sie in der deutschen Theaterlandschaft heute nicht mehr gefragt.
Woran das liegt, hat Charles-Augustin Sainte-Beuve schon um 1850 in einer Fussnote zu seinem grossen religionsgeschichtlichen Werk "Port Royal" erklärt:
Früher, in der Literaturepoche des Regelmässigen, die klassische genannt, galt als bester Dichter, wer das perfekteste, schönste Gedicht geschaffen hatte, das klarste, das angenehmste zum Lesen, das vollendetste in jeder Hinsicht, die "Aeneis" [Vergil], "Jerusalem" [Tasso], eine schöne Tragödie. Heute will man anderes. Der grösste Dichter ist für uns, wer in seinen Werken dem Leser am meisten zu imaginieren und zu träumen gab, wer ihn am meisten anspornte, selber zu poetisieren. Der grösste Dichter ist nicht, wer es am besten gemacht hat: es ist, wer am meisten suggeriert, bei dem man anfänglich nicht recht weiss, was er hat sagen und ausdrücken wollen, der uns viel zu wünschen übriglässt, zu erklären, zu grübeln, viel selber zu vollenden. Es gibt nichts Höheres, um unsere Bewunderung zu wecken und zu nähren, als die unfertigen und unauslotbaren Dichter: denn heute will man, dass die Poesie im Leser sei, fast in gleichem Mass wie im Dichter. Seit die Kritik geboren und gross wurde, überflutet sie alles, überbietet sie alles, sie liebt die dichterischen Werke nicht, die rundum vom Licht umflossen und vollkommen sind; damit kann sie nichts anfangen. Das Unbestimmte, das Obskure, das Schwierige, wenn es sich mit einiger Grösse vereinigt, ist eher ihre Sache. Sie braucht Stoff zum Konstruieren und Schaffen für sich selbst. Sie ist überhaupt nicht verärgert, wenn sie einen Knäuel zu entwirren hat und wenn man ihr von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten macht. Es missfällt ihr nicht zu spüren, dass sie ihrerseits in ein Schaffen kommt. Wenn ich sie einmal gesehen und bewundert habe in der Reinheit ihrer Zeichnung und ihres Umrisses, was soll ich da noch sagen zu Dido und Armida, Bradamante oder Clorinde, Angélique oder Herminie? Sprecht zu mir von Faust, von Beatrice, von Mignon, Don Juan, Hamlet, diesen Figuren mit zwei- oder dreifacher Bedeutung, Diskussionsgegenstände, in gewisser Hinsicht geheimnisvoll, undefiniert, unvollendet, dehnbar, ständig wechselnd und veränderlich: Sprecht zu mir von dem, was Grund und Vorwand gibt zu ewigen Grübeleien und endlosen Betrachtungen. Wenn man "Le Lutrin" oder "Athalie" gelesen hat, wurde der Geist erholt oder erhoben; man hat ein nobles oder feines Vergnügen genossen; doch alles ist gesagt, vollendet, fertig, unverrückbar; und dann ... gibt es hier nichts Rätselhaftes; alles erscheint recht flach.
So verhält es sich auch mit "Le petit coiffeur". Deshalb fährt man am besten nach Paris. Wenn man das Glück hat, auf die richtige Besetzung zu stossen, wird man erleben, welche Kraft eine "pièce-bien-faite" entfalten kann, und das Théâtre Rive Gauche aufgewühlt verlassen.
Die "pièce bien faite" ...
... führt zu stillen ...
... und harten Momenten.