Moskitos. Lucy Kirkwood.
Schauspiel.
Itay Tiran, Jessica Rockstroh. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. März 2022.
> In Heimito von Doderers grossartigen "Wasserfällen von Slunj" wird ein junger Engländer in die Wiener Verhältnisse von 1900 eingeführt. Es gibt den hohen Adel (die sogenannte erste Gesellschaft), dann die zweite (das hohe Beamtentum), und die dritte (die Unternehmer und Industriellen). Ingenieure, erklärt der junge Herr von Wasmut, Mitglied der zweiten Gesellschaft, "geniessen bei uns keinen gesellschaftlichen Rang. Es ist bei einigen Berufen so. Zum Beispiel bei den Zahnärzten, den Gymnasialprofessoren oder den aktiven Offizieren der Infanterie. Solche Leute kommen in der Gesellschaft garnicht vor." – Wer heute zu denen gehört, die in der Gesellschaft gar nicht vorkommen, kann sich am Wiener Akademietheater von Lucy Kirkwoods "Moskitos" aufdatieren lassen. Das Stück, eine boulevardeske "Tranche de vie", führt in die Welt der Forscher und Nobelpreisträger. Als Beschäftigte der Universitäten Oxford und Cambridge, des CERN und der WHO sind sie an den fashionablen Orten London und Genf tätig. Darunter geht es nicht. Doch tröstlich für alle, die keine Rolle spielen, ist die Tatsache, dass bei den Ausnahmemenschen der Spruch von Lydia Zwahlen, Putzfrau aus Bümpliz, seine Gültigkeit behält: "Unter jedem Dach ein Ach." <
Natürlich sind in der Familie der wissenschaftlichen Royals, deren Verhältnisse Lucy Kirkwoods Stück abhandelt, alle Mitglieder hochgradig: Der pubertierende Sohn hochgradig intelligent, aber auch hochgradig gestört; die Mutter als Forscherin in Teilchenphysik hochgradig engagiert, aber auch hochgradig phantasielos in menschlichen Belangen. Die Grossmutter, eine hochdekorierte Emerita, hat mit ihrer brillanten Forschung den mittelmässigen Gatten zum Nobelpreis gebracht, doch seit sie ihre Welt durch Demenz und Inkontinenz einschrumpfen sieht, ist sie noch selbstbezogener geworden.
Und wenn die französischen Soziologen sagen: "In jeder Familie gibt es einen Selbstmörder, einen Verbrecher, einen Süchtigen, einen Irrenhäusler, einen Konkursiten und einen Verschollenen", so bildet in den "Moskitos" die Tante das schwarze Schaf. Sie hat soeben ihr Kind verloren, weil sie es als horoskopgläubige Anhängerin von Verschwörungstheorien nicht gegen die Masern impfen liess. Jetzt säuft sie sich in einen Dauerrausch, der nicht nur ihre schräge Seite, sondern auch ihren EQ dermassen unterstreicht, dass sie, verkörpert durch Mavie Hörbiger, die Zuschauersympathien mobilisiert und an sich bindet.
Regisseur Itay Tiran stellt die Figuren, die aus einer Serie stammen könnten, in einem White Cube aus (Bühne: Jessica Rockstroh). Im Zusammenhang mit dem Stück macht diese Wahl Sinn. Vors Universum gehalten sind nämlich die menschlich-allzumenschlichen, aber letzten Endes unbedeutenden Verhältnisse der Wissenschaftsfamilie gleich ephemer wie der Flug eines Moskitos oder die Bahn eines Bosons in einem Teilchenbeschleuniger.
So symbolisiert das Weiss des Dekors die Leere des Alls, in dem die vergänglichen Sterblichen ihre zufalls- und triebgesteuerten Handlungspirouetten vollführen:
Man ist mit einem Male, zu seiner Verwunderung, da, nachdem man, zahllose Jahrtausende hindurch, nicht gewesen ist, und, nach einer kurzen Zeit, ebenso lange wieder nicht mehr zu sein hat. Jedem Vorgang unseres Lebens gehört nur auf einen Augenblick das Ist; sodann für immer das War. Jeden Abend sind wir um einen Tag ärmer.
Aus Betrachtungen wie den obigen kann man allerdings die Lehre gründen, dass die Gegenwart zu geniessen und dies zum Zwecke seines Lebens zu machen, die grösste Weisheit sei; weil ja jene allein real, alles andere nur Gedankenspiel wäre. Aber ebenso gut könnte man es die grösste Torheit nennen: denn was im nächsten Augenblick nicht mehr da ist, was so gänzlich verschwindet wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernstlichen Strebens wert.
Arthur Schopenhauer
Die Autorin Lucy Kirkwood spiegelt das Rätsel, dass "etwas ist und doch nicht ist" (wie sich der paranoide Woyzeck ausdrückte) durch die Rolle des Bosons, verkörpert durch den weiss kostümierten Markus Meyer, der im blanken Weiss fast nicht zu erkennen ist. Wie der "deus absconditus" der Theologen ist das Boson der Physiker allgegenwärtig, aber ungreifbar; im Stück darüberhinaus sehend, aber nicht handelnd; kommentierend, aber nicht eingreifend: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken." (Jesaja 55, 8)
Vor diesem Hintergrund führt die boulevardeske "Tranche de vie" zu den letzten Fragen, und beim Aufstehen konstatiert die muntere Dame vom Nebensitz: "Ich habe mich gut unterhalten."
Unter jedem Dach ...
... ein Ach.