Idomeneo. Wolfgang Amadeus Mozart.
Oper.
Nicholas Carter, Miloš Lolić, Wolfgang Menardi, Jelena Miletić, Bernhard Bieri. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. Februar 2022.
> Beachtlicher Premierenapplaus. Nicht ganz zu unrecht. Die Sänger sind allesamt erstklassig. Auch der Chor. Er bringt eine Extraleistung an Volumen, Präzision und Schönheit. Die Partitur entschädigt die Sängerin der ungeliebten Elettra mit einer Zornesarie, die's in sich hat, und Masabane Cecilia Rangwanasha, schon in der ersten Spielzeit zum Publikumsliebling avanciert, wird ihr spielend gerecht. Auf ihrem Niveau bewegen sich auch die übrigen Darsteller. So entdeckt das Ohr von Nummer zu Nummer neue vokale Schönheiten. Es ist unabweislich: Seit vergangenem Herbst bewegt sich die Oper der Bundesstadt musikalisch auf einer höheren Umlaufbahn. Da ist sogar ein Machwerk wie "Idomeneo" zu ertragen, obwohl es nirgendwo mehr im Abonnement gegeben würde, wenn der Komponist nicht Mozart, sondern Müller hiesse (egal, ob Wenzel oder August Eberhard). <
Als sich – fünfzehn Jahre nach dem Harnoncourt/Ponnelle-Ereignis am Opernhaus Zürich – die Pariser Nationaloper anschickte, "Idomeneo" ihrerseits auf den Spielplan zu setzen, fand sich zwar auf Anhieb ein junger Spitzendirigent (Iván Fischer), aber kein Spitzenregisseur. Auch kein mittlerer. Am Ende erklärte sich der Dirigent bereit, selber das Kreuz der Inszenierung zu übernehmen, nur um die Produktion möglich zu machen. Denn es lag ihm viel daran, am Anfang seiner internationalen Karriere die frühe Mozart-Oper, welche die Kenner als genial einstufen, einstudiert und dirigiert zu haben.
Der Musikwissenschafter Alfred Einstein bezeichnete "Idomeneo" als "eines jener Werke, die selbst einem Genie allerersten Ranges wie Mozart nur einmal im Leben gelingen". Und in einer ebenso luziden wie begeisterten Partituranalyse stellte sein Kollege Harry Halbreich fest:
Ein problematisches Werk, wurde immer wieder gesagt. Aber das einzige Problem, und Mozart selbst war sich dessen voll bewusst, liegt in der wahnsinnigen Verschwendung von Inspiration, im musikalischen Rausch, im Überfluss, der sich nie wieder im selben Ausmass einstellen sollte. Denn der Mozart des "Idomeneo" ist der Beethoven der "Eroica", der Strawinsky des "Sacre", am idealen und einzigartigen Punkt, wo jugendlicher Elan und Kraft der Reife zusammentreffen. Tausend unerhörte Kühnheiten der Schreibart: dissonante Schocks, blitzartige Modulationen, unerhörte Chromatismen, glanzvolle neue Klangfarbenkombinationen machen "Idomeneo" zum Nervenzentrum des Mozartschen Schaffens, zum Ideenreservoir, zum unerschöpflichen Steinbruch, aus dem er immer wieder schöpfen wird. Selbstverständlich bricht dieser glühende Mozart alle Dämme mit der unaufhaltsamen Kraft eines anschwellenden Stroms, so dass das ungekürzte Werk fast vier Stunden dauern würde.
Der genialen Partitur gegenüber steht ein vollkommen stümperhaftes Libretto. Das verrät schon der Anblick der Erstdrucks:
Idomeneus. Ein musikalisches Schauspiel, welches auf gnädigsten Befehl Seiner kurfürstlichen Durchlaucht Carl Theodor in Ober- und Niederbayern, wie auch der oberen Pfalz Herzog, Pfalzgraf bei Rhein, des Heiligen Römischen Reiches Erztruchsess und Kurfürst etc. etc. im neuen Opernhause zur Faschingszeit 1781 aufgeführt worden.
Die Poesie ist vom Herrn Johann Baptist Varesko, Seiner hochfürstlichen Gnaden Erzbischofen und Fürsten zu Salzburg Hofkapellan.
Die Musik vom Herrn Wolfgang Gottlieb Mozart, akademischem Mitgliede von Bologna und Verona, in wirklichen Diensten Seiner hochfürstlichen Gnaden zu Salzburg.
O du mein Gott! Welch umständliche Erzählweise vom Herrn Varesko, Salzburger hochfürstlicher Hofkapellan! Immer wieder schreibt Mozart in seinen Briefen, der Text sei zu lang, zu geschwätzig; die Vorlage bringe das "dramma per musica" mit ihrem prätentiösen Wortgeklaube um jede dramatische Wirkung. Gleichzeitig jedoch befeuert der Murks des Amateurlibrettisten das musikalische Genie, mit einem Überschuss an Qualität das theatralische Defizit auszubalancieren. Das Material, das Mozart in seiner Not hervorbringt, reicht für fünf Stunden. Darum werden Schnitte nötig, um die Aufführungsdauer auf drei Stunden zu drücken. Sie führen zu drei konsekrierten Fassungen. Die Berner Fassung ihrerseits dauert zweieinhalb Stunden (inklusive Pause). Diese Ausgangslage führt zum Fazit: Was auch immer wir sehen - es ist zerschnipselt.
Durch ein mehrschichtiges Spiel mit Vorhängen und Kulissen (Bühnenbild Wolfgang Menardi), glänzend ausgeleuchtet von Bernhard Bieri, unterstreicht die Inszenierung von Miloš Lolić mit den klugen Kostümen von Jelena Miletić die Künstlichkeit und Theatralität der faden, undramatischen Aktion und stellt gleichzeitig das Zerschnipselte der Erzählweise aus.
Glaubhaft ist nichts. Zwar spricht der Text von Liebe, Tod, Macht, Eifersucht und Verhängnis, Krieg, Sturm, Schiffbruch, Auftritt dämonischer Gewalten, Götterneid und Sohnesopfer, aber die Handlung erreicht uns nicht. Nummer folgt auf Nummer, Soloarie auf Soloarie; ein Fest der Stimmen, gewiss, doch keine packende Handlung, sondern Einförmigkeit, gediegene Langeweile.
Das hängt auch mit dem abstrahierenden Ansatz des Produktionsteams zusammen, "Idomeneo" als Theater im Theater zu inszenieren. Freilich sind die Darsteller, zur Freude des Premierenpublikums, "werktreu" geführt. Aber die Szenerie ist vom intendierten Bild so weit entfernt, dass kein Zuschauer es ohne Vorkenntnis auf der Bühne wiederfindet.
Damit verschieben sich die Gewichte: Die Aufführung bringt, wieder zur Freude des Premierenpublikums, in erster Linie Augenschmaus, mal ironisch, mal geleckt, nicht aber mythologische Antike. Im Unterschied zum Zürcher und Pariser "Idomeneo" wird der Bühnenzauber des Barocktheaters nur andeutend zitiert, nicht aber heraufbeschworen, auch wenn er, wie seinerzeit in Zürich und Paris – und anfänglich in München – Sensation machte. Eine Zeitungsnotiz, die drei Tage nach der Uraufführung erschien, nennt Mozart überhaupt nicht, ergeht sich aber, so berichtet Kurt Pahlen, in Lobeshymnen auf die Ausstattung, die einen wahren Hafen mit griechischem Tempel auf die Bühne bringe.
Durch den Verzicht aufs Sensationelle verdeckt indes die Berner Inszenierung auch in keiner Weise den fragwürdigen Kern des Dramas. Und das wiederum macht sie sehens- und bedenkenswert:
Hier liegt der Ton darauf, dass das Schicksal des Menschen von einer höheren Macht geleitet wird, die er anzuerkennen hat. Der Grund für Anbetung, Gehorsam und Verehrung liegt nicht in den sittlichen Eigenschaften der Gottheit, nicht in ihrer Liebe und Gerechtigkeit, sondern in der Tatsache, dass ihr die Herrschaft, also die Macht über den Menschen zusteht. Das wesentliche Element autoritärer Religion und entsprechender religiöser Erlebnisse ist die Unterwerfung unter eine Macht jenseits des Menschen. Die Haupttugend bei diesem Typ von Religion ist Gehorsam, die Kardinalsünde Ungehorsam. Wie die Gottheit [in der Oper: Neptun] als allmächtig oder allwissend dargestellt wird, ist im Gegensatz dazu der Mensch macht- und bedeutungslos. Nur insoweit er durch völlige Unterwerfung die Gnade oder Hilfe der Gottheit erwirbt, vermag er Stärke zu empfinden. Diese Auslieferung seiner selbst an eine machtvolle Autorität ist einer der Wege, auf denen der Mensch dem Gefühl der Einsamkeit und der Beschränkung entgeht. Er verliert dabei seine Unabhängigkeit und Geschlossenheit als Individuum, aber er gewinnt das Gefühl, von einer ehrfurchterweckenden Macht beschützt zu sein, von der er sozusagen ein Teil wird. (Erich Fromm)
Wir können also folgern: Gut, entwickelt die Produktion keinen Sog! Gerade durch die Langeweile bringt sie uns zum Denken. Dazu passt, dass der junge Spitzendirigent Nicholas Carter, seit dieser Spielzeit Berner GMD, sich mit seinem von der historisierenden Schule geprägten Dirigat jedem Anklang an Mirabellgarten und Mozartkugel verweigert. Seine nüchterne Interpretation bewahrt "Idomeneo" davor, als "Opium für das Volk" genossen zu werden.
Göttliches Verhängnis.
Rasender Zorn.
Barocker Kulissenzauber.