"Ich mache dir einen Kaffee!" © Tuong-Vi Nguyen.

 

 

Mère. Wajdi Mouawad.

Schauspiel.

Wajdi Mouawad. Théâtre national de la Colline, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. November 2021.

 

> Wajdi Mouawad ist das wuchtigste und bewegendste Antikriegs­stück gelungen, das die Bühne in den letzten fünfzig Jahren hervorgebracht hat. Die Wirkung kommt dadurch zustande, dass das Verhängnis nur indirekt geschildert wird, und von unten. Schauplatz ist eine Flüchtlingswohnung in Paris. Dort lebt eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Der Sohn ist im Volksschul-, die Tochter im Gymnasialalter. In Beirut versucht der Vater, das Geschäft zu halten. Anfangs überweist er regelmässig Geld nach Frankreich. "Wir bleiben noch zwei Monate hier", verspricht die Mutter, "dann kehren wir in den Libanon zurück". Doch neue Kriegshandlungen verhindern immer wieder die Abreise. Nach fünf Jahren entscheiden die französischen Behörden: "Ihre Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen. Sie müssen schauen, dass sie wegkommen." Nun geht es weiter nach Kanada. – Was während dieser Zeit im Nahen Osten geschieht, vernimmt die Familie aus der Tagesschau. Manchmal gelingt es ihr auch, Angehörige am Telefon zu erreichen. Die Bühne zeigt dann die Reaktion der Sprechenden am Apparat, und diese indirekte Erzählweise macht den Schrecken von Gewalt und Zerstörung erst recht fassbar. Das Publikum wird dabei im doppelten Wortsinn "mitgenommen": Erschüttert einerseits, hineinverwickelt bis zu schmerzhafter, kaum mehr erträglicher Beteiligung anderseits. <

 

Das Stück bezieht seine Qualität aus der Wahrheit der Darstellung und der Fluidität der Erzählung. Sie lässt das Publikum von einem Zustand in den andern gleiten und die Personen auf der Bühne von einer Situation in die nächste. Am Anfang begrüsst Wajdi Mouawad wie ein Theaterbediensteter die Zuschauer und ruft ihnen die Regeln in Erinnerung: Handys abschalten. Keine Bild- und Tonaufnahmen während der Vorstellung. Keine Bonbons aus der Cellophanhülle wickeln. Dann erklärt er, dass in Übertiteln die libanesisch gesprochenen Teile wörtlich übersetzt würden, damit die Poesie der Sprache nachvollzogen werden könne. Nun tritt er auf die Bühne und situiert den Ort: Eine möblierte Wohnung im 15. Pariser Arrondissement. Dort hat seine Familie nach Ausbruch des Libanonkriegs fünf Jahre gelebt. Wajdi Mouawad war der Junge, der gleich auftreten wird, und die Darstellerinnen, die am Küchentisch Tomaten zu zerhacken beginnen, verkörpern Mutter und Schwester.

 

Schon breitet sich im Theatersaal Gemüsegeruch aus. Das olfaktorische Element zieht die Zuschauer in die Situation hinein. Sie werden zu Beteiligten, und die Gespräche zwischen Mutter und Tochter wecken Erinnerungen an Selbsterlebtes. "Fusion" nennt das die Psychologie. Die fremde Familie verschmilzt mit der eigenen. Was ihr zustösst, passiert uns. Damit macht das Stück die Auswirkung der Geschehnisse, welche die Tagesschau aus dem Libanon überträgt, am Einzelmenschen fassbar.

 

Die Fluidität des Erzählverlaufs, die der "Recherche du temps perdu" innewohnt, führt bei "Mère" zu einer Dramaturgie der Durchlässigkeit und Überlagerung. In der Stube der Flüchtlingsfamilie begrüsst die Nachrichtensprecherin Christine Ockrent in eigener Person die Fernsehzuschauer, und gleichzeitig tritt sie mit der Familie in Dialog: "Ich kann Euch heute leider nichts Besseres aus dem Libanon melden." Durch die Überlagerung entsteht eine Allianz der Ohnmächtigen, die, wie die Mutter im Stück und das Publikum im Saal, "einfach nur leben" möchten. Und gegenüber Krieg und Gewalt haben sie nur die empörte Frage: Warum?

 

Unermüdlich sucht die Mutter die Kinder durchzubringen und sieht, wie sie ihr fremd werden. Die Anstrengung aber und die Enttäuschung machen sie hart. Unversehens tritt Wajdi Mouawad auf die Bühne und weist sie auf den schlafenden Kinderdarstel­ler hin: "Schau dir diesen Jungen an! Er hat immer auf ein Zeichen der Zärtlichkeit von dir gewartet. Doch du hast nur gebrüllt und ihm befohlen, den Staubsauger hervorzunehmen. Jetzt empfindet er nichts mehr für dich." "Wer bist du?" "Ich bin der, der da liegt, in Gestalt deines erwachsenen Sohns. Du aber, Mutter, bist schon seit 25 Jahren tot." Mit dieser Überlagerung schafft das Stück in der Colline die Durchlässigkeit von Realität, Erinnerung und Fiktion.

 

Die Begegnung ereignet sich eben im Zwischenreich der Kunst. Hier kann alles zu Wort kommen. Wajdi Mouawad sagt, dem Krieg verdanke er seine französische, das heisst freiheitliche Sozialisation. Und dank dem frühen Tod der Mutter habe er den Weg zum Theater einschlagen können. So ist alles gut gekommen, weil sie vom Leben in dem Alter abtrat, in dem er zu jetzt ihr spricht – aber nicht mehr als der ungeliebte, herumgeschubste Junge, sondern als der Verfasser des Stücks, das von ihr handelt, und als dessen Regisseur sowie, darüber hinaus, noch als Direktor des Théâtre national de la Colline. Aber die Mutter in Gestalt der grossartigen Schauspielerin Aïda Sabra protestiert: "Was du mich sagen lässt, sind nicht meine Worte! Du legst sie mir in den Mund!" Ach, nickt der Sohn, auch da verstehen wir uns nicht. Wir strecken vergebens die Hände nacheinander aus.

 

Und doch: "Möchtest du etwas essen?", fragt die Mutter. Der Sohn sagt, er habe keinen Hunger. "Dann mache dir einen Kaffee. Einen echten türkischen!" Nun sitzen sie miteinander am Bühnenrand. Und das Stück zeichnet respektvoll, zart und traurig die Einsamkeit der Mutter nach. Nachts, wenn die Kinder schlafen und die Kraft sie verlässt, sinkt sie als kaputtes Häufchen schluchzend an der Wand nieder. Dann wieder versucht sie in kämpferischem Aufbäumen, dem stummen Telefon eine Verbindung zum Libanon abzuringen. Das Abgeschnittensein aber, das die verstorbene Mutter zwischen 1978 und 1983 in Paris durchlebte, macht heute Wajdi Mouawads "Mère" zum wuchtigsten und bewegendsten Antikriegs­stück der letzten fünfzig Jahre.

 

Die Schwester träumt von Arnaud.  

"Was du mich sagen lässt, sind nicht meine Worte." 

"Ich bin es, in Gestalt des Erwachsenen." 

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