Der Kirschgarten. Anton Tschechow.
Schauspiel.
Clément Hervieu-Léger. Comédie-Française, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. November 2021.
> Jetzt hat's die Comédie-Française auch erwischt. Die erste durchgehend bespielte Sprechbühne der Welt (gegründet 1630) ist in die Knie gegangen; hat nachgegeben; ist, wie die andern, der Seuche zum Opfer gefallen. Jetzt kann sie den "Kirschgarten" nicht mehr ohne Tonverstärkung stemmen und nennt das Verbrechen "Sonorisation". Die Qualität des Klangs hängt vom Standort der Mikrofone ab. Wenn sich der uralte Diener Firs zu seinem letzten Schlaf auf der Mittelbühne ausstreckt, erreichen seine Worte: "Keine Kraft mehr. Du taube Nuss!", die Zuschauerreihen so rund und wohlabgemischt, als kämen sie aus den Ohrstöpseln. Und wenn der Unternehmer Lopachin, der den Kirschgarten erwerben wird, dem Publikum den Rücken zukehrt und murmelnd nach hinten geht, so steigt – gegen alle Erfahrung – das Volumen seiner Worte mit jedem Schritt an. Unter diesen Bedingungen ist der Zuschauer dauernd beschäftigt, den ungewollten V-Effekt der Sonorisation wegzudenken. Das Sprechtheater aber hat sich aufgegeben. Dabei hat die jüngste Pariser Journalistin bei einer Kritikerdebatte kurz vor Ausbruch der Corona-Krise noch gegen die Beschallung Stellung bezogen: Schauspiel, sagte sie, bedeute doch die Anwesenheit physischer, lebendiger, dreidimensionaler, analoger Körper im Raum. Elektronisch Geboostetes bekomme sie ausreichend im Netz. Doch die klugen Worte der Jugend sind konsequenzlos verhallt. Sie fielen der Schwerhörigkeit der Alten zum Opfer. <
Die Konjunktur, die Anton Tschechows "Kirschgarten" zur Zeit auf den europäischen Bühnen erfährt, verdankt das Stück der Klimakrise und der Woke-Bewegung. Soll, nein: muss der immense historische Baumbestand, der sogar im russischen Konversationslexikon erwähnt wird, aus wirtschaftlichen Gründen parzelliert und dem Bau von Wochenendhäusern geopfert werden? Das ist der eine Konflikt, für den wir heute sensibler sind als die früheren Generationen.
Der andere betrifft die Ausbeutungs- und Sklavenfrage. Die Grundbesitzerin Ranevskaja, die mit dem Geld nicht umzugehen versteht, stammt aus einer Unterdrückerfamilie, deren Reichtum aus der Arbeit von Leibeigenen kommt. Wird dies herausgearbeitet, erkennt man den traditionellen "Kirschgarten" je nach Inszenierung kaum wieder.
Doch da macht die Comédie-Française nicht mit. Clément Hervieu-Légers Regie setzt auf konventionelle Konventionalität, und in dieser Verdoppelung liegt die Tragödie. Wenn Konventionalität leeres, handwerklich gedankenloses Ab-Blatt-Spielen bedeutet, so gibt die konventionelle Konventionalität dazu noch aus Effektgründen dem Drang zum Aufhübschen und Chargieren nach. Stilistisch geht die Wiedergabe also vom Schauspiel weg Richtung Oper. Und das macht Tschechows "Kirschgarten" ungeniessbar, weil er nicht mehr Tschechows "Kirschgarten" ist.
Die unmotivierten Gänge von Schauspielern, nur dadurch veranlasst, dass die Bühne nicht "kippen" soll, sind nach der Erfindung des Regietheaters im deutschen Sprachraum allmählich ausgestorben. Wenn sie noch vorkommen, zuckt man zusammen. In der Comédie-Française passiert das alle sechs Minuten. Bei einer Spieldauer von 2 Stunden und 20 Minuten macht das 22 Mal.
Dasselbe findet sich bei der Beleuchtung. Stimmungslicht (also lediglich der Wirkung geschuldetes Auf- und Abdimmen von Scheinwerfern wie im Variété) ist bei einem realistischen Stück, das in den Dialogen stets die genaue Tages- und Nachtzeit angibt, ein No-Go. Doch das bietet die Pariser Elitebühne nun ausgerechnet bei Tschechow.
So wirkt an der Comédie-Française vieles leer, obwohl das Stück in seinem Fundament immer noch stark ist. Aber das merkt man beim Lesen auch. Über die Schauspieler ist nichts Bemerkenswertes zu sagen. Mit Ausnahme des kleinen Hauslehrers Trofimow (Jérémy Lopez) wirken alle Personen stellenweise noch unfertig, das heisst: nicht gefüllt, nicht präzise.
Doch dann kommt für den dritten Akt der Choreograph ins Spiel. Bruno Bouché übernimmt die Truppe, ergänzt durch Mitglieder des Schauspielstudios, und inszeniert den Hausball. Er trifft mit einer solchen Genauigkeit die Linie zwischen Alltag und Kunst, dass er nicht nur den Höhepunkt hervorbringt, sondern auch zeigt, wo der Rest der Aufführung hinkommen sollte, damit es sich lohnt, sie zu besuchen.
Die Comédie-Française setzt auf konventionelle Konventionalität.
Das Spiel wird aufgehübscht und chargiert wie in der grossen Oper.