Catabasis. Dämonen. Boris Yukhananov und Ruth Heynen frei nach Fjodor M. Dostojewski.
Projekt.
Boris Yukhananov. Staatstheater Cottbus.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2021.
> Das chiffrierte Theater. Es beginnt schon mit dem Titel: Warum steht auf den Plakaten und im Programmheft nach dem Wort "Dämonen" nicht auch ein Punkt wie nach "Catabasis"? Und was heisst Catabasis überhaupt? Man wird bei allem Scharfsinn, ja sogar mit Griechisch-Abitur, die Antwort nicht finden. Das "Projekt von Boris Yukhananov und Ruth Heynen frei nach Dostojewski" verlangt nämlich einen Chiffrierschlüssel. Für das Wort "Catabasis" liefert ihn Wikipedia. (Aber Achtung: K eingeben!) Was den Rest betrifft (und das sind immerhin 2 Stunden und 30 Minuten), bleibt die Inszenierung unverständlich. Die Folge: An der Vorstellung vom letzten Abend der Sommerzeit ist das Cottbuser Staatstheater leer. Im Haus befinden sich auf und hinter der Bühne etwa gleich viele Beschäftigte wie zahlende Besucher im Zuschauerraum. Verhältnis also 1:1. Damit bedeutet "Catabasis. Dämonen" ein Verlustgeschäft für beide Seiten. <
1920 erfand Arnold Schönberg die Zwölftontechnik und räumte damit auf mit dem, was er 1935 in einem Vortrag an der University of Southern California "Ausdrucksmusik" nannte. Am brandenburgischen Staatstheater liquidiert nun Boris Yukhananov in seinem "gemeinsamen Projekt mit dem Stanislavsky Electrotheatre (Moskau, Russland)" als "Koproduktion des Lausitz Festival mit dem Staatstheater Cottbus" das Ausdruckstheater. Oh, nicht als erster! Sein Stil entwickelte sich schon vor hundert Jahren, parallel zur Zwölftontechnik. Ist also historisch sanktioniert.
Für das Laienauge bedeutet die Spielanlage in erster Linie Verrätselung. Da ist Text (projiziert und gesprochen), da ist Musik (perkussiv ab Band und vokal live vom 26-köpfigen Theaterchor [rhythmisch gestossene A-a-a-Laute]), da ist Videoanimation mit insektenhaftem, gruselig haarigem Schattenspiel, da sind farbige Perücken, grosse Gebärden und grellbunte Kostüme, da ist Geschrei und Emotion, da sind Requisiten und Lichter, da ist eine Drehbühne mit Parallelhandlungen (die eine Handlung stets als grotesk verlangsamtes, stummes Bild), und da ist das Ganze – akribisch genau durchkomponiert wie eine Schönbergpartitur ... Doch wer die Ausbildung nicht hat, sitzt gleich ratlos vor der "Catabasis"-Aufführung wie 1924 das Publikum beim "Ballet Mécanique" der Dadaisten.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Deutsch der Darsteller über weite Strecken unverständlich ist. Ist das darauf zurückzuführen, dass der Regisseur als Russe die Qualität der Diktion nicht beurteilen konnte? Oder ist der Effekt gewollt? Im Lauf des Abends neigt man manchmal der einen, dann der anderen Erklärung zu. Möglicherweise sind beide richtig. Einzelne Stellen wollen vielleicht nur ein Aufbäumen von Figuren oder ein Herausspucken von Wörtern darstellen, ohne dass dadurch eine Situation oder ein Charakter ausgedrückt werden soll. Absolutes Spiel sozusagen, analog zur absoluten (das heisst: von allem Konkreten gereinigten) Musik.
Ob die genaue Kenntnis von Dostojewskis "Dämonen" (o Mensch, wie viele Seiten!) helfen würde, die einzelnen szenischen Momente heimzutun und damit zu verstehen? Während der Aufführung werden ja laufend geschriebene Romanstellen aus Wikisource eingeblendet, auf Deutsch, Italienisch, Griechisch und Hocharabisch. Anderseits ist ein Zusammenhang der Zitate mit der Handlung nicht erkennbar (auch nicht, huch!, beim Hervorschälen eines Darstellerpimmels). So muss dem lieben Gott die auseinanderstrebende Kakophonie des Weltgeschehens vorkommen.
Ob das die Einsicht ist, der die Aufführung zustrebt: Der Schöpfer durchschaut das Chaos nicht mehr, in das die Schöpfung geglitten ist? Oder soll das Ganze andersrum aufgefasst werden: Gott erkennt Zusammenhänge, die für uns unfassbar sind, nach dem Bibelwort: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr" (Jesaja 55, 8). Wie auch immer: Das Cottbuser chiffrierte Welttheater lässt uns ratlos zurück.
Doch die symbolische Lesart, vielleicht ohnehin die falsche, hilft nicht, die Qualität des Schauspiels zu erkennen. Im Unterschied zu den grossen verrätselten Zelebrationen von Brechts Meisterschülern Berghaus und Freyer ist der Hauch des Geheimnisses – falls er überhaupt "Catabasis. Dämonen" durchzieht – zu fein für das Gemüt des Berichterstatters. Er spürt und merkt nichts. Auf ihn bezogen gilt beim Dostojewski-Projekt das Jesus-Wort: "Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben und eure Perlen nicht vor die Säue werfen" (Matthäus 7, 6).
Parallelhandlungen.
Gruseliges Schattenspiel.
Unverständliches Deutsch.