Frankenstein oder eine Frischzellenkur. Clara Weyde und Barbara Kantel, frei nach Mary Shelley.
Schauspiel.
Clara Weyde, Katharina Philipp. Niedersächsisches Staatstheater Hannover.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2021.
> Das Wunder an dieser bezaubernden "Frankenstein"-Version liegt darin, dass es ihr gelingt, aus einem Korpus von vierzehn höchst unterschiedlichen Texten eine runde, anregende Produktion herauswachsen zu lassen. Vier Faktoren tragen zum Erfolg bei: 1. Die Tragfähigkeit des Frankenstein-Mythos. 2. Die humorvolle Vorgehensweise. 3. Der Sinn für die Pause. 4. Die Ökonomie der Mittel. <
Wie heute im deutschen Schauspiel üblich, streift der Abend alle grossen Weltprobleme (Sinn des Universums, Klimakatastrophe, Rolle von Kunst und Wissenschaft, Gendergerechtigkeit), aber in einer Weise, die zuerst und vor allem die alte Wahrheit belegt: "Du kannst alles machen. Bloss: Es muss gut sein."
Als Frankensteins Monster bringt Nils Rovira-Muñoz durch meist stummes Spiel Unschuld, Grazie und herzerfrischende Aufrichtigkeit in die Geschichte. Sein Dasein beweist, dass die Kreatur gut ist, sogar wenn sie als Retortengeburt der Wissenschaft zur Welt kam. Damit ist das intrikate Verhältnis von Natur und Kultur schon etabliert.
Aber weil schwierige Sachen schwierig sind, reflektiert nun die Aufführung von Clara Weyde die Dialektik zwischen Denken und Handeln, den Hervorbringungen des Menschen und den Schöpfungen der Natur durch Zitierung höchst karätiger Textpassagen der Sorten Brief, Interview, Manifest, Essay, Dichtung. Die Kommentare der vierzehn unterschiedlichen Quellen werden eingebunden in einen flotten, durchgehenden Verlauf, der mit wirkungsvollen, weil mutig langen Pausen durchsetzt ist, in denen das Vorangehende nachhallt und das Kommende sich vorbereitet. Die Mischung gibt dem Abend seine Einzigartigkeit und Würze.
Das sensibel getaktete, humorvoll-augenzwinkernde Spiel des fünfköpfigen Ensembles (sprecherisch herausragend Torben Kessler) grundiert die intellektuellen Passagen durch Einbettung der Sätze in einen emotionalen und soziokulturellen Kontext. Die Sprache wächst also aus Situationen und Personen hervor. Sie geben dem Wort eine Färbung, und die Färbung wiederum weckt beim Zuschauer Skepsis, Vorsicht, Nachdenklichkeit. Damit betreibt das Schauspiel Hannover Aufklärung der feinsten Sorte.
Wenn Novalis schrieb: "Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst", so bedeutet das im einfachen, aber zweckdienlichen Bühnenbild von Katharina Philipp (Stichwort: Ökonomie der Mittel) ein buntes, komplexes und spannungsvolles Gewebe von Freude und Schmerz: Freude an der Darstellung, Schmerz über das Dargestellte. Goethe, der Dichter, der Theaterdirektor, Regisseur und Wissenschaftler hätte gesagt: "So ist es eben recht."
Die Mischung gibt ...
... dem Abend ...
... seine Würze.